Kinder in Computerspielen Teil II: Erbe erspielen

29. August 2013
Abstract: Der zweite Teil der Artikelreihe zu Kinderfiguren im Computerspielen stellt die Frage nach der Verarbeitung von Kindern auf der Ebene der Spielmechanik. Wie wird die Zeugung, Erziehung und letztendlich auch die Emanzipation von Kindern in Computerspielen thematisiert? Ein Blick auf unterschiedliche Titel und Genres demonstriert, dass die vollständige Integration dieser Dynamik nur wenigen Spielen gelingt - bricht sie doch mit gängigen Zielen und Praktiken zeitgenössischer Spielpraxis, die Spielende durch ihren Avatar maximal befähigen will. Der mögliche Verlust von agency durch die Priorisierung eines Kindes und schließlich auch das Altern und Sterben des zuvor liebgewonnen Avatar-Elternteils verträgt sich nur schwer mit diesem Ideal - und erklärt damit die geringe Anzahl an Titeln, die sich ganzheitlich mit diesem Thema beschäftigen.


Nachlese: Kindererziehung erzählen vs. Kindererziehung spielen

Der erste Teil dieses Artikels (erschienen im April) beschäftigte sich zunächst mit der Rolle von Kinderfiguren in den Erzählungen von Computerspielen. Die Analyse von Bioshock 2  1 , Dishonored  2 und The Walking Dead: Season 1 3 zeigte, wie effektiv die Verankerung von Kinderfiguren im Kern einer Spielerzählung sein kann. Denn alle drei Titel inszenieren erfolgreich eine Vater-Tochter Konstellationen zwischen dem Protagonisten (und dahingehend auch dem Spieler) und einer auf ihn angewiesenen Adoptivtochter, indem sie nicht nur zahlreiche kurz- und langfristige Spielziele, sondern auch die Mehrzahl der narrativen Elemente (Dialoge, Videosequenzen, etc.) mit den Kinderfiguren verbinden. Das heißt: Auch wenn der Spieler auf der Ebene des Gameplays unterschiedlichste genretypische Herausforderungen (das Ausschalten von Gegnern, Beseitigung von räumlichen Hindernissen, etc.) besteht, welche im Vorgang des Spielens selbst kaum auf die Figur der Ziehtochter bezogen werden können, gelingt es den Erzählungen immer wieder, diese unterschiedlichen Handlungen im Kontext der Vater-Tochter-Beziehung zu verankern. Diese Dynamik hat jedoch, so nützlich sie auch sein mag, bestimmte Schwächen: Es gelingt ihr zwar, eine Vater-Tochter-Konstellation zum bestimmenden Erzählelement des Spiels zu machen, aber nicht, dies auch auf der Ebene des Gameplays umzusetzen. Dies ist vor allem bei Bioshock 2 und Dishonored zu bemerken: Die erzählte Geschichte dreht sich vielleicht um Vaterschaft, aber im Gameplay wird diese nur durch das Töten oder Nicht-Töten von Gegnern umgesetzt.
Oberflächlich erscheint dies neben dem extrem komprimierten Zeitablauf des Erziehungsvorgangs (beide Spiele dauern nur einige Tage oder wenige Wochen diegetischer Zeit) fragwürdig und höchst unrealistisch. Warum betonen beide Titel die Eltern-Kind-Dynamik so stark in ihren Erzählungen, wenn sie nur so einen kleinen Teil des eigentlichen (performativen) Spielvorgangs ausmacht und dabei auch noch höchst 'unrealistisch' ist? Ohne eine adäquate Perspektive und eine bessere Übersicht ist diese Frage jedoch nicht zu beantworten. Wir müssen uns also zunächst eine Übersicht verschaffen: Wie integrieren andere Computerspiele Kinderfiguren in ihre Erzählungen – und vor allem auch aktiv in ihre Spielmechanik? Welche Möglichkeiten gibt es, Kinder zu Spielelementen zu machen und wie viele Aspekte des großen Komplexes um die Zeugung und Erziehung von Kindern werden von den verschiedenen Spielen aufgegriffen?

Kinder und alles, was damit zusammenhängt – Ein Blick auf das Computerspiel

„To have children, you must have a level 3 house or bigger, and have your spouse at the appropriate heart level. Regular bachelors/bachelorettes must have 14 hearts before asking for children. The Witch and Wizard will require 15 hearts before children are a possibility. The Harvest King and Harvest Goddess need 16 hearts before they will consider having children.“ 4- Das Harvest Moon Wiki

 

Schritt 0: Dating

Diese auf den ersten Blick fast schon amüsant erscheinende Formel zur Zeugung von Kindern in Harvest Moon: Animal Parade 5 kann stellvertretend für den Umgang der meisten Videospiele mit Beziehungsanbahnungen und der Zeugung von Kindern gesehen werden. Ob es am Höhepunkt der Beziehung zur Zeugung eines Kindes kommt oder nicht: sobald die mögliche Anbahnung einer Beziehung in ein Computerspiel integriert wird, besteht immer die Versuchung (bzw. die Möglichkeit), sie zu einer Herausforderung des Spiels zu machen. Mit der Herausforderung, also der Integration in ein Regelsystem, kommt es aber auch in zahlreichen Fällen zur Quantifizierung der fiktiven Beziehung und ihrem Status. Beziehungen werden zu statistischen Herausforderungen, in denen Zahlenwerte (die 'Zuneigung' eines möglichen Partners) durch die Befolgung von Regeln und bestimmte Maßnahmen (Geschenke, Lösung von Aufgaben, positive Gesprächsantworten) maximiert werden. Beispiele sind neben japanischen Dating-Simulationen (hier Dream Club Zero, 2011, in dem der Protagonist sein gesamtes Einkommen aus Nebenjobs in einem Club ausgibt, um eine der dortigen Hostessen zu beeindrucken und mit ihr eine Beziehung einzugehen 6 ) auch die optionalen Datingabschnitte in den Titeln der GTA-Serie (ab GTA: San Andreas), der Fable- oder Sims-Reihe, wo potentielle Partner mit teuren Geschenken und aufregenden Aktivitäten beeindruckt werden können.

Romantik vs. Spielmechanik: "Drücken Sie 'A', um Ihr Date zu küssen."

Dating und menschliche Zuneigung in Spielbegriffen und Punktesystemen abzubilden, ist eine attraktive Lösung für Spielentwickler: Nicht nur macht es emotionale Aktivitäten auf den ersten Blick als Herausforderung im Regelsystem des Computerspiels erfahrbar, es macht sie auch lösbar – wer die mathematischen Regeln des Datingsystems versteht, kommt zu einer Lösung und damit zu einer Beziehung. Gleichzeitig ist dieses Vorgehen natürlich höchst problematisch: Beziehungen als vollkommen berechenbare Punktesysteme zu begreifen, die durch wenige einmalige Aktionen optimiert werden können, vermittelt ein höchst verzerrtes Bild von den Voraussetzungen einer stabilen Partnerschaft.
Ein Partner im Computerspiel ist ein weiteres manipulierbares Objekt und besonders dort, wo Beziehungen mit spielmechanischen Belohnungen verbunden werden, ist ein Partner etwas, das im Sinne der Gewinnmaximierung mit dominanten Strategien der Spieltheorie betrachtet werden muss. Die Frage lautet nicht, "wie gewinne ich die Zuneigung meines potentiellen Lebens(-abschnitts-)partners?", sondern "wie viele Ressourcen (z.B.: Blumen, Pralinen und Alkohol) muss ich minimal einsetzen, um in den nächsten Level dieses Dates zu kommen?". Es handelt sich also um offensive Dating-Strategien im Sinne einer rein mechanistischen Sicht auf Beziehungen, welche die individuellen Besonderheiten eines Partners auf die jeweils nötigen Ressourcen für die Erreichung des Ziels Bestätigung, Triebbefriedigung oder Kerben im Bettpfosten (Punkte) hin reduziert.
Der Rahmen dieses Artikels erlaubt zwar keine umfassende Analyse dieser Probleme, aber es sollte schon jetzt klar geworden sein, dass diese zumindest zu einem beträchtlichen Teil von den strukturellen Möglichkeiten des Spielmediums beeinflusst werden.

Schritt 1: Zeugung und Schwangerschaft

Die Qual der Wahl: Das Inventar romantischer Handlungen in der Sims-Reihe

Das Dating – falls vorhanden – war also erfolgreich. In den meisten Spielen mit dieser Option folgt auf den Datingerfolg, der meistens – sehr klassisch – in einem gegenseitigen Liebesbekenntnis und einem leidenschaftlichen Kuss besiegelt wird, die Möglichkeit sexueller Aktivitäten. Aber auch hier müssen wir von vornherein in Spiele differenzieren, die die Möglichkeit der Kinderzeugung einschließen und solche, die sie ignorieren.

 Kinderlose Romanzen

Denn während auf der einen Seite zahlreiche Titel, vor allem Rollenspiele, Protagonisten mit dem Eingehen von festen Beziehungen (Baldur's Gate I, II, Knights of the Old Republic, Dragon Age I, II) oder ungezwungenen One-Night Stands (Mass Effect II, The Witcher, God of War) grundsätzlich sexuelle Interaktionen erlauben, existieren nur sehr wenige Titel, die die möglichen Konsequenzen aus dem meist nur indirekt präsentierten Geschlechtsakt ziehen. Schwangerschaft spielt keine Rolle und wird weder als Risiko noch als Hoffnung thematisiert. Vor allem die Rollenspiele von Bioware (Baldur's Gate, Knights of the Old Repulic, Dragon Age, Mass Effect, etc.) bedienen sich einer dezidiert 'romantischen' Vorstellung von Liebe, die die im Spiel angebotenen Romanzen mehrheitlich 7 als Ideal einer emotionalen Verbindung zweier Liebender charakterisiert. Sexualität bildet hier gleichsam als 'Qualitätssiegel' den Endpunkt einer bis dahin betont emotional ausgeprägten Beziehung. Kinder sind dabei jedoch vergleichsweise irrelevant – und das vielleicht aus gutem Grund. Dies erklärt sich aus einem Blick auf die Ausnahme dieser Regel, das in einem mittelalterlichen Fantasy-Universum spielende Baldur's Gate II, in dem Aerie, ein elfisches Gruppenmitglied des Protagonisten im Fall einer Beziehung schwanger wird und nach einer gewissen Zeit ein Kind zur Welt bringt. Da Baldur's Gate II jedoch weder thematisch noch mechanisch auf die Integration von Kindern ausgelegt ist, kommt es zu einem vergleichsweise irritierendem Ausgang der Schwangerschaft: Der Säugling wird nach seiner Geburt zu einem Inventargegenstand, der von seiner Mutter automatisch bei allen Abenteurer-Aktivitäten (Erforschung von verbotenen Tempeln, Kämpfe gegen Drachen und Halbgötter, etc.) mittransportiert wird. In den Bioware'schen Welten der Heldenreise 8 , deren Kern von der individuellen Entwicklung des Helden und der Konfrontation mit äußeren Herausforderungen gebildet wird, erscheint die realistische Integration von Kindern problematisch: Sie bringen keine Boni im Kampf gegen Monstrositäten, ihre Versorgung lenkt den Helden von seinen heroischen Aufgaben ab und würde ihn sogar zwingen, in seiner Heldenreise innezuhalten – kurzum: Kinder stören das 'Abenteuer' im klassischen Sinn, sie stehen der egozentrischen Anhäufung von Macht und Reichtum, die zumindest einen Teil der Faszination des Rollenspielgenres als Befähigungsphantasie ausmacht, diametral entgegen. Die Erziehung von Kindern kann zwar durchaus als Spielmechanik gefasst werden, aber nur dort, wo Spiele in ihrer narrativen und mechanischen Grundstruktur darauf ausgerichtet sind – wo die Geburt von Kindern vom Spiel nicht nur als narrativ, sondern auch als spielmechanisch relevant dargestellt wird.

„Try for a baby?“ – Die Entscheidung zum Kind

"Achievement unlocked!"

 
„Trying for a baby carries a chance of conception depending on where it was done.
 25% in a hot tub
40% in an all-in-one bathroom
50% in a clothing booth and other places not listed here in The Sims 3.
55% in a time machine[TS3:A] and underwater cave
60% in a bed
75% in a sarcophagus
80% on the Heart-shaped Bed9 

Die Spiele, die sich an einer solchen Integration versuchen und es dem Protagonisten erlauben, Kinder zu zeugen (eine Auswahl: Fable 2 und 3, die Harvest Moon-Serie, Die Sims 1-3, Crusader Kings 2, Die Gilde 1 und 2), zeichnen sich wiederum größtenteils durch ein faszinierendes Verhältnis zu diesem Thema aus. Sowohl die Fable-, Harvest Moon-, wie auch die Sims-Reihe, die vielleicht populärsten Vertreter dieser Untergruppe von Spielen, machen das, was in der Realität zu den vielleicht am stärksten problematischen Aspekten der Familienplanung zählt, zur Basis ihrer Darstellung: Ihre (fehlende) Planbarkeit. Kinder werden als das Ergebnis einer bewussten Entscheidung präsentiert: Wer Kinder will, bekommt sie. Wer keine Kinder bekommen möchte, bekommt keine, egal wie viel Sex er/sie hat. Die Sims-Reihe macht dies beispielsweise an verbalen Distinktionen fest: Während Sex ohne Fortpflanzungsabsicht (der auch immer ohne ungewünschte Konsequenzen bleibt) mit dem Begriff 'WooHoo' umschrieben wird, führt das Anwählen der Option „Try for a baby“ früher oder später (in Sims 3 mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit, 10 zur Zeugung eines Kindes. Fable 2 und 3 gehen dabei ähnlich vor: Ein Eingehen auf die Avancen der selbstgewählten Ehepartnerin durch eine Daumen-Hoch-Geste (Die Protagonisten der Fable-Serie können sich nur durch Gesten verständlich machen) erlaubt dem Spieler nahe dem Ehebett die Wahl zwischen „geschützten“ und „ungeschützten“ Eheaktivitäten. Ersteres ist wieder folgenlos, während letzteres für die spätere Geburt eines Kindes sorgt. 11 Die Titel der Harvest Moon-Reihe entkoppeln die Zeugung eines Kindes fast vollkommen von Sexualität. Der Protagonist wird so beispielsweise in Harvest Moon: Animal Parade  von seiner Partnerin bei einem ausreichend hohen Beziehungs-Punktestand eines Morgens (in einer jeder Romantik oder Erotik entbehrenden Szene) gefragt, ob er ein Kind „haben“ (nicht zeugen) möchte. 12 Falls dieser bejaht, wird ihm schon vor der Geburt des Kindes erlaubt, dessen Geschlecht, Aussehen und sogar seine grundlegenden Charakterzüge festzulegen – das geborene Kind ist kein 'Unfall', es ist ein in jedem Sinne des Wortes ein Wunschkind.

Herkunft: unbekannt. Wahrscheinlich sind Störche involviert.

 

Schritt 2: Kinder aufziehen (das Aufwachsen)

Es ist kaum zu übersehen, dass die angesprochenen Titel die Zeugung und Geburt von Kindern extrem stark unter die Kontrolle des Spielers stellen. Es gibt keine Komplikationen, keine Unsicherheiten, keine unangenehmen Überraschungen – alles verläuft nach Plan. Es würde darum auch nicht überraschen, wenn diese Entwicklung auch in der späteren Entwicklung der Kinder fortgesetzt wird. Aber Halt! Erinnern wir uns an Aeries Baby in Baldur's Gate II. Es bleibt für den Rest des Spieles ein Säugling, altert und wächst nicht und verbleibt so im Inventar seiner Mutter neben Zauberstäben, Drachenschuppenrüstung und vergifteten Dolchen. Die Erklärung dafür findet sich (neben den bereits angesprochenen Gründen) in der zeitlichen Struktur des Spieles, welches auf der mechanischen Ebene primär in Stundenabschnitten (Rastzeit, Tag- und Nacht) funktioniert und die Spielwelt nicht nach makrostrukturellen Zeitabläufen (Monate, Jahreszeiten, Jahre, etc.) verarbeitet oder verändert. Das Kind altert nicht erkennbar, da niemand sonst in den Wochen/ Monaten der Spielhandlung erkennbar altert. Es gibt also ein grundsätzliches Problem bei der zeitlichen Inszenierung des Aufziehens von Kindern: Wie (schnell) wird aus einem Säugling ein Kind, wie aus einem Kind ein Teenager? Der Blick auf Baldur's Gate liefert einen Hinweis darauf, dass sich die Unterscheidungsmerkmale im Umgang mit dieser Thematik höchstwahrscheinlich in Strukturmerkmalen von Genres finden lassen. Dort, wo ein Spiel nicht in seinem Kern darauf ausgelegt ist, das Vergehen von Zeit in einem zumindest verhältnismäßig mit dem menschlichen Wachstumszyklus abgestimmten Verhältnis darzustellen, sondern seine Zeit primär nach den Bedürfnissen anderer Spielelementen ausrichtet, kommt es notwendigerweise zu 'Zeitbrüchen'. Dies ist der Grund, warum es z.B. sowohl in Bioshock 2 wie auch in Fable 2 zu großen Zeitsprüngen kommt, in denen das Kind des Protagonisten in einem realen Augenblick – der im Spiel eine Pause von mehreren Jahren repräsentiert – vom Säugling zum Kind oder vom Kind zum Teenager wird: Die Titel wollen dem Spieler die Entwicklung ihrer 'Kinder' präsentieren, können dies aber nicht im Rahmen ihrer inhärenten Zeitstruktur bewerkstelligen. Deshalb greifen sie zu Kunstgriffen, die die im Spiel verstrichene Zeit entweder überspringen oder massiv komprimieren. Ein Beispiel hierfür bietet auch das Endvideo von Dishonored, in dem die folgenden 30 Jahre im Leben von Emily in einer Minute zusammengefasst werden. 13 Es gibt nur wenige Ausnahmen: Die Sims-Reihe funktioniert auf ganzer Linie in einer extrem beschleunigten, aber noch verhältnismäßig nachzuvollziehenden Zeitstruktur, in der einzelne Sims zwar nur 90 Spieltage alt werden, aber diese Zeit in verschiedenen, in ihrer Länge halbwegs mit der Realität kongruenten Lebensstufen verbringen (Sims sind so die ersten drei Tage ihres Lebens Säuglinge, dann ca. acht Tage lang Kinder, dann Teenager, junge Erwachsene, etc. bis sie die letzte 'Woche' ihres Lebens als Senioren verbringen). Crusader Kings 2, ein im Mittelalter angesiedeltes Strategiespiel, in dem der Spieler das Schicksal einer adligen Familie über vierhundert Jahre europäischer Geschichte lenkt, funktioniert dagegen vollkommen auf der Basis einer dynastischen Zeitstruktur, in der alle (vom Spieler kontrollierbaren) Figuren altern, sterben und von ihren Kindern beerbt werden, welche wiederum altern und sterben, etc.; die Dynastie selbst ist beim fliegenden Wechsel von Protagonisten die einzige Konstante, ihr Wachstum oder Scheitern (beim Aussterben der Familie) ist der einzige 'Siegesindikator' des Spiels.

Schritt 3: Profit? – Das Wachsen in die Selbstständigkeit

Hier stoßen wir auf einen weiteren extrem wichtigen Punkt im Umgang von Computerspielen mit Kinderfiguren: Wie gehen sie mit der Selbstständigkeit um, die erwachsene Kinder einfordern, wie mit dem Altern und seiner Konsequenz – dem Tod des Protagonisten? Es versteht sich von alleine, dass der Wachstumsprozess der Kinder in Die Sims und Crusader Kings 2 bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter gehen muss – das weitere Wachstum der Familie bzw. die Kontrolle durch den Spieler wäre sonst unmöglich. Dies birgt jedoch ein Risiko: Abhängig von der Anzahl der aufeinanderfolgenden Generationen kann der einzelne Protagonist immer bedeutungsloser werden. Deshalb wagen auch nur die wenigsten Spiele den Schritt, eine in Stunden des Spielens lieb gewonnene Figur mit einer anderen zu ersetzen, die völlig ohne den Bonus dieser emotionalen Verbindung funktionieren muss. Eine Möglichkeit, dies zu verhindern, besteht im Anhalten des Wachstums der Kinder. Wenn sie nie erwachsen werden, können sie niemals ihre Eltern ersetzen.

Eine in der Zeit erstarrte Konstellation: Familienportrait in Harvest Moon

Die Titel der Harvest Moon-Serie tun genau das: Die Nachkommen des Protagonisten entwickeln sich über verschiedene Phasen bis zu präpubertären Kindern, die in späteren Teilen auch einzelne Hilfsaufgaben auf dem Bauernhof übernehmen können – aber nie längerfristig. 14 Das selbe geschieht in den Titeln der Fable-Serie: Die Kinder des Protagonisten bleiben für immer präpubertär und werden niemals erwachsen, um ihren eigenen Weg zu gehen oder sogar gegen ihre Eltern aufzubegehren. Sie bleiben ohne Eigeninitiative und komplementieren den Erfolgsstatus des Protagonisten als Hausbesitzer, Ehemann und Vater. Kurzum: Der Protagonist – also die erste Instanz der Spielerkontrolle – bleibt, dadurch dass die Nachfolge der Generationen nie durchgeführt wird, das Zentrum des Spieles; er wird genauso wenig zur Aufgabe der Kontrolle über seine Kinder gezwungen, wie der Spieler zur Aufgabe seiner Kontrolle über ihn gezwungen wird.

Fazit: Who wants to live forever?

Nach dieser Untersuchung ist es vielleicht auch klarer, warum die Integration von Kinderfiguren in Computerspielen sich so problematisch und auf den zweiten Blick an vielen Stellen geradezu paradox gestaltet. Denn wie die Entscheidung zur Integration von Kindern im eigenen Leben zieht sie einen ganzen Rattenschwanz von Konsequenzen nach sich: Kinder wachsen und reifen, werden selbstständiger und emanzipieren sich, bis sie schließlich auf eigenen Beinen stehen - 'Kindheit' definiert sich gerade dadurch, dass sie einmal endet. Kinder, die niemals aufhören können, Kinder zu sein, verkehren die vielleicht zunächst gewonnene Glaubwürdigkeit eines Spieles (zumindest da, wo dies nicht durch das Spiel erklärt wird) in ihr Gegenteil. Aber dies ist scheinbar ein Risiko, das zahlreiche Titel (wie Fable oder Harvest Moon) zugunsten der Rettung des lieb gewonnenen Protagonisten der klassischen Heldenreise eingehen. Der Spieler muss sich auf diese Weise nicht vor der Zeit von seinem Protagonisten verabschieden und gerät nicht in die schwierige Situation, das prekäre Band zwischen ihm und seinem Avatar zu hinterfragen. Crusader Kings II bezahlt auf der anderen Seite den Preis für die konsequente Durchsetzung dieser impliziten Forderung: Zwischen dem innerhalb von einer halben bis zwei Spielstunden (durch Assassinen, Krieg, Krankheit oder Altersschwäche) vollkommen ausgewechselten Ensemble der verschiedenen Generationen verlieren Individuen ihre Bedeutung, Eigenschaften und Biographien verschwimmen im Brei der Geschichte.
Aber aus dieser Perspektive erscheinen die Enden von The Walking Dead, Dishonored und Bioshock 2 in einem neuen Licht: Der Tod des Protagonisten am Ende des Spieles bietet die Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen: Er steht am logischen Ende eines langen (und hoffentlich spielerisch befriedigenden) Spieldurchlaufs und wird narrativ stark mit dem erfolgreichen Abschluss der Geschichte assoziiert – der Tod wird zu einem akzeptablen Ausgang der Geschichte, eben auch gerade deshalb, weil er kein absolutes Ende bildet: Selbst nach dem Ende des Spiels als solches wird das Erbe des Protagonisten in einer Erzählung über die von ihm geprägte Ziehtochter weitergetragen. Dass der Spieler diese Erfahrungen nicht selbst spielen und bestimmen kann, ist in dieser Hinsicht keine Schwäche, sondern betont nur den großen Einfluss, den die Handlungen des Protagonisten und des Spielers auf die Spielwelt ausgeübt haben – ein Erbe über das Spiel hinaus.

 Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien:

 Texte:

Campbell, Joseph: The Hero With A Thousand Faces. 3. Auflage. Novato Calif.; New World Library 2008.
Fable Wikia: Sex. <http://fable.wikia.com/wiki/Sex> [06.01.2016].
Harvest Moon Wiki: Your Child (Harvest Moon 3DS). 2015. <http://harvestmoon.wikia.com/wiki/Your_Child_(ANB)> [05.01.2016].
Harvest Moon Wiki: Your Children (Animal parade). <http://harvestmoon.wikia.com/wiki/Your_Children_(AP)> [06.01.2016].
Sims Wikia: WooHoo. 2015. <http://sims.wikia.com/wiki/WooHoo> [06.01.2016].

Spiele:

2K Games: Bioshock 2 (PC). 2K 2010.
Arkane Studies: Dishonored (PC). Bethesda Softworks 2012.
Marvelous AQL: Harvest Moon 3DS: A New Beginning (Nintendo 3DS). Marvelous AQL 2013.
Marvelous Interactive: Harvest Moon: Animal Parade (Nintendo Wii). Rising Star Games 2010.
Tamsoft: Dream Club Zero (Xbox 360). D3 Publisher 2011.
Telltale Games: The Walking Dead Season 1 (PC). Square Enix 2012.

  1. 2K Games: Bioshock 2. 2010[]
  2. Arkane Studies: Dishonored. 2012[]
  3. Telltale Games: The Walking Dead. 2012[]
  4. http://harvestmoon.wikia.com/wiki/Your_Children_(AP) []
  5. Marvelous Interactive: Harvest Moon 3DS: A New Beginning.2010[]
  6. Tamsoft: Dream Club Zero. 2011.[]
  7. Eine Ausnahme ist die Romanze mit Morrigan in Dragon Age: Origins: Morrigan fällt nicht nur aus dem typischen Punktemaximierungssystem für positive Gesprächsantworten, sondern schläft auch am Ende des Spieles mit der expliziten Absicht der Kindeszeugung mit dem Protagonisten (das Kind ist wiederum kein 'normales Kind', sondern soll den Untergang der Welt einleiten, aber immerhin). []
  8. vgl.Campbell: The Hero With A Thousand Faces. 2008[]
  9. Sims Wikia: WooHoo. 2015. []
  10. vgl. Sims Wikia: WooHoo. 2015.[]
  11. Fable Wikia: Sex. <http://fable.wikia.com/wiki/Sex> [06.01.2016][]
  12. Marvelous Interactive: Harvest Moon: Animal Parade 2010[]
  13. Arkane Studios: Dishonored 2012[]
  14. Harvest Moon: 3DS: A New Beginning, erlaubt Spielern, ihre Kinder auf Wunsch für 30 Tage in Teenager zu verwandeln. Diese verhalten sich jedoch fast identisch und können dem Spieler nicht einmal bei komplexeren Farmarbeiten behilflich sein. Vgl. Harvest Moon Wiki: Your Child (Harvest Moon 3DS). 2015.[]

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Baumgartner, Robert: "Kinder in Computerspielen Teil II: Erbe erspielen". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 29.08.2013, https://paidia.de/kinder-in-computerspielen-teil-ii-erbe-erspielen/. [29.03.2024 - 11:14]

Autor*innen:

Robert Baumgartner

Promotion zum Thema "Sinn(es)-Welten. Die Wirkungsästhetik von Computerspielwelten." (Veröffentlichung im Sommer 2021). Seine besonderen Forschungsinteressen umschließen Fantastik (in Theorie und Texten) und Computerspielforschung. Er ist Redakteur von Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung und Mitherausgeber des Sammelbandes I’ll remember this – Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. (Hülsbusch 2016).