Simulation als Grenzerfahrung – Grenzerfahrung als Simulation

6. Mai 2015

Dieser Aufsatz möchte zwei Dinge versuchen: In einem ersten Schritt soll ein Vorschlag für die Verwendung des Begriffs „Simulation“ nachgezeichnet werden, der an anderer Stelle bereits dargelegt wurde. In diesem Zusammen­hang ist auch zu klären, in welchem Verhältnis hier die Begriffe „Dokumentation“ und „Simulation“ stehen. In einem zweiten Schritt schließen sich Überlegungen zu der chiastischen Verschränkung an, die bereits im Titel formuliert wurde: Wie verbindet sich der Begriff der „Simulation“ mit dem der „Grenze“ in beide Richtungen, so dass von Simulation als Grenzerfahrung und von Grenzerfahrung als Simulation gesprochen werden kann?

Dokumentation

Der Ausgangspunkt für den Umgang mit dem Begriff der Dokumentation, wie er hier gewählt wird, ist ein konstruktivistisch-semiotischer. Dokumentation wird verstanden als ein Prozess von Repräsentation mit einer spezifischen Rezeptionserwartung an die Repräsentation. Jede Diskussion um Wahrheit, um Wahrhaftigkeit, um Realität soll vermieden werden – oder nötigenfalls überführt werden in ein Modell, das Realität in ein beobachtungsabhängiges Relationsgefüge übersetzt. Realität wäre demnach immer das, was in der Beobachtung als eine spezifische Realität gefasst wird. Insofern gilt Eva Hohenbergers Trennung in vorfilmische Realität und filmische Realität als Paradigma mit Betonung darauf, dass die vorfilmische Realität eben nicht durch einen ontologischen Status, sondern durch das Verhältnis zur filmischen Realität geprägt ist. Hohenberger schreibt mit Blick auf den Dokumentarfilm: „Der Dokumentarfilm filmt nicht die, sondern eine vorfilmische Realität, die der Film selbst produziert.“ 1  Die vorfilmische Realität endet nicht an der Kamera, die eben nicht als Fenster zur, sondern hier als konstruierender Ort der Beobachtung verstanden wird – die vorfilmische Realität beginnt also mit der Kamera, oder noch genauer: sie beginnt im Moment der Beobachtung durch die Kamera. Dieser vorfilmischen Realität folgen unendlich viele weitere: die Realität des Films, des Zuschauers, des Kritikers, des Wissenschaftlers etc. Das beobachtete Objekt konstituiert sich in Abhängigkeit von der Beobachtung, der Perspektivierung und damit auch der Rezeptionserwartung:

Es dürfte deshalb weithin Einigkeit bestehen darüber, dass es sich bei der dokumentarischen und der fiktionalen Filmarbeit um eben dies handelt, um jeweils spezifische Praktiken im Umgang mit Film. Für die Qualifizierung und Unterscheidung dieser beiden Praktiken könnte man die verschiedenen Produktionsweisen des Dokumentarischen und des Fiktionalen betrachten; die Absichten der Produzenten und die Haltung der Filmemacher zur Realität. Damit kommt dann u.a. der Intention des Produzenten ent­schei­den­de Bedeutung zu. Wirksam aber kann diese Intention nur dann werden, wenn sie kommunizierbar und decodierbar wird, wenn sie also zu einer spezifischen Betrachtungsweise, einer Lektüre oder Lesart des jeweiligen Films führt. […] Deshalb ist für die Qualifikation und Unterscheidung des Dokumentarischen und des Fiktionalen schließlich die Lektürepraxis das entscheidende Kriterium. Es handelt sich um zwei verschiedene und unterscheidbare Lesarten des Filmischen. 2

Über die Festlegung des Kriteriums, das für die eine oder die andere Lesart spricht, kann vermutlich nichts Abschließendes gesagt werden - wohl aber eine systematische Vermutung geäußert werden. Die Repräsentationen sind im Sinne von Charles S. Peirce Zeichen mit 1. einer ikonischen Dimension, weil sie etwas abbilden, das an anderer Stelle vorhanden ist,  mit 2. einer indexikalische Relation von Repräsentamen und Objekt (zumindest im traditionellen Filmverständnis, bei dem Licht als physikalische Verbindung von Repräsentamen und Objekt gilt) und 3. funktionieren sie auf einer symbolischen Ebene, die das gesamte Zeichen durch bestimmte Kon­ven­ti­onen in einer Kultur als ein „Dokumentarzeichen“ festlegt. Die Frage nach dem Dokumentarischen wird also nicht allein auf den Ebenen der Repräsentationen entschieden, die man üblicherweise dafür annehmen würde, denn Ikonizität und Indexikalität sind zwar notwendige, aber keine hinreichenden Kriterien, um das Verhältnis einer vorfilmischen Realität zum einer filmischen Realität als ‚echt‘, ‚wahr‘ oder ‚authentisch‘ zu bestimmen. Entscheidend ist, dass das Zeichen auf symbolische Ebene, in kultureller, konventioneller Hinsicht als dokumentarisches Zeichen verstanden wird.

Ein dokumentarisches Medienereignis ist demnach also gekennzeichnet durch einen Repräsentationsprozess, der ein Zeichen als dokumentarisches Zeichen markiert (das meint bei Engell die Dimension der Intention) und perspektiviert (das meint bei Engell die Dimension der Betrachtungsweise) - es läuft also fortwährend ein Metakommunikationsprozess über die Qualität und den Status des Zeichens mit. Eine wesentliche Frage für den Dokumentar­film wäre nun freilich, wie dieser Meta­kommunikations­prozess kulturell ausgestaltet ist: Welche Erwartungen hat man an ein Medien­ereignis, damit es als dokumentarisches Ereignis gefasst werden kann? Der zentrale Aspekt dürfte der der Authentizität sein.

Für die hier nun folgenden Überlegungen im Übergang zur Simulation ist dieser Aspekt von Bedeutung, was sich insbesondere dann zeigt, wenn man eine Zuspitzung auf eine knappe Formel versucht: Ein Medienereignis ist dann ein dokumentarisches, wenn es im Metakommunikationsprozess des Medienereignisses als dokumentarisches Medienereignis ausgehandelt wird. Und als zentrales Kriterium in diesem Aushandlungsprozess kommt die Frage nach Authentizität im lateinischen Sinn von authenticus (= „verbürgt“, „zuverlässig“) zum Tragen. Darin spiegeln sich eine spezifische Auffassung von einem dokumentarischen Zeichen und eine gewisse Erwartungshaltung an die Historizität einer Dokumentation wieder. Und darin ist nun auch der Übergang zur Simulation angelegt, denn während das Dokumentarische authentisch zeigt, will die Simulation Prozesse von Handlung und Erleben authentisch erfahrbar machen.

Simulation

Der Begriff der Simulation soll hier also analog und als Fortsetzung zu dem Begriff der Dokumentation hergeleitet werden, was die Argumentation deutlich verkürzt; zudem wurde er bereits an anderer Stelle ausführlicher behandelt. 3 ) Simulation wird hier im Ausgangspunkt gleichermaßen als ein Prozess von Repräsentation verstanden, nur liegt hier der Schwerpunkt auf einem Prozess der Erfahrung, der durch die Simulation erfahrbar gemacht wird. Simulation wird hier also verstanden als eine Repräsentation der Erfahrung des Erlebens von Prozessen.

Die Herleitung dieses Gedankens ist folgende: Zunächst muss der Simulations­begriff von dem Ballast befreit werden, mit dem er innerhalb der Computerspielforschung üblicherweise belastet ist. Der eine übliche Simulationsbegriff hebt ab auf die Genrekategorisierung und beschreibt Spiele mit einer bestimmten Form, in denen Eisenbahnen, Rennautos, Flugzeuge und ggf. sogar Ziegen simuliert werden. Auch das ist ein Meta­kommunikations­prozess, nur einer, der zumeist stabil und ausgehandelt ist. Ein zweiter üblicher Simulationsbegriff greift deutlich weiter aus und zielt auf den Spielprozess und das Erfahrbarmachen einer Erfahrung ab, die sonst möglicherweise gar nicht gemacht werden könnte. Computerspielen würde hier also „Probehandeln“ 4 im Sinne von Bernd Scheffer bedeuten. Im Prozess des Spielens lernt man beispielsweise das Steuern einer Eisenbahn. „Die Simulation dient hier einer Modellierung der Wirklichkeit, die notwendig idealisierend, simplifizierend und selektiv ist, dann aber anhand anderer empirischer experimenteller Daten validiert werden muss.“ 5  Das muss aber natürlich nicht zwangsläufig so sein, was deutlich wird, wenn man im Detail betrachtet, was hier passiert: Ein Spieler interagiert mit den Pixeln auf einem Bildschirm und das Spiel vermittelt ihm, dass er dies richtig tut – richtig meint hierbei aber nicht richtig wie eine 'echte' Eisenbahn, sondern richtig in dem Sinne, wie es die Spielregeln von ihm verlangen. Und damit ist ein zentraler Punkt erreicht: Die Meta­kom­mu­ni­kation (ob etwas als Simulation intendiert, kommuniziert, rezipiert wird) umfasst nicht nur die Ebenen von Bild und Ton, sondern insbesondere auch das Set der Spielregeln. Zwangsläufig schließt sich daran die Frage nach der kulturellen Erwartungshaltung an eine Simulation an: Welche kulturellen Konventionen muss ein Medienereignis erfüllen, damit es als Simulation gilt? Der Vorschlag hier ist, dass neben den Ebenen von Bild und Ton auch Naturgesetze und ggf. soziale Ordnungen repräsentiert werden müssen. Eine Simulation  repräsentiert ein spezifisches Regelset, also die Abbildung von einem Ausschnitt von Welt inklusive zentraler Regeln und der Spielräume für mögliches Verhalten in diesem Ausschnitt – vom Naturgesetz bis zur kulturellen oder sozialen Organisation. Damit ist – um eine Brücke zu der Überlegung von Lorenz Engell oben zur Dokumentation zu schlagen – Simulation vor allem eine spezifische Praxis. Ein Rezipient kann jederzeit entscheiden, ob er ein Medienangebot als Simulation fasst oder nicht.

Wenn Bernd Stiegler nun Simulationen als „idealisierend, simplifizierende und selektiv“ 6 beschreibt, dann bedeutet dies, dass sie gegenüber dem ‚Vorbild‘ in der Regel defizitär und nicht vollständig sind. Bestimmte Aspekte werden nicht, nicht vollständig oder stark abgewandelt repräsentiert. Simulationen basieren – das ist die Annahme – vor allem darauf, dass ein Spieler die Repräsentation von Welt, Regeln und Handlungsoptionen als plausibel akzeptieren will. Nun soll hier – um einen nächsten Schritt zu unternehmen – angenommen werden, dass ein Großteil der Lebewesen, Dinge oder Welten, mit denen man in einer Simulation in Berührung kommt, selbst wiederum ursprünglich erzählte, fiktionale und/oder medial inszenierte Lebewesen, Dinge oder Welten sind. Was meint das? Wer selbst Auto fährt, hat eine Vorstellung davon, was Autofahren bedeutet. Ein Autorennspiel am Bildschirm dockt teilweise an dieses Vorwissen an, wenngleich Rennfahrer immer wieder darauf hinweisen, dass das Fahren eines Rennwagens eben nicht mit dem Fahren eines ‚normalen‘ Autos vergleichbar ist. Aber wann ist ein Autorennspiel als Rennsimulation wirklich plausibel? Die Annahme ist, dass sie dann plausibel ist, wenn sie der üblichen Vorstellung vom Fahren von Rennwägen entspricht. Diese übliche Vorstellung ist bei den meisten Computerspielern vermutlich durch die mediale Inszenierung von Autorennen im Fernsehen oder Film und eben nicht durch die eigene Rennerfahrung geprägt. Ein Computerspiel wie Gran Turismo, das sich selbst im Untertitel als „The Real Driving Simulator“ 7 bezeichnet, bemüht sich in vielen Bereichen um eine möglichst genau ikonische Repräsentation, beispielsweise bei der Grafik, den Regelsets zur Fahrphysik, der Streckengestaltung etc. Natürlich fehlt alles das, was Computerspiele nicht repräsentieren können. Will man nun dennoch von einem Moment der Simulationserfahrung sprechen, so spricht einiges dafür, dass es sich bei den Repräsentationen um solche Faktoren handelt, die ein Nicht-Rennfahrer als zentral annehmen kann. Diese Faktoren nun meinen nichts anderes als die Vorstellungen und Konventionen dessen, was ein Nicht-Rennfahrer als rennfahrtypisch auffasst. Autorennen findet also hier auf der Basis der Vorstellung von Autorennen statt – nur dadurch ist die Brücke zum Simulationserleben möglich. Was ist hierbei die Bemessungs­grundlage für Plausibilität? Der Verdacht ist, dass die Grundlage zumeist andere Medienereignisse sind – eine Überlegung, die später noch von Bedeutung sein wird.

Zu Beginn des Abschnitts wurde gesagt, dass Simulation hier als eine Repräsentation der Erfahrung des Erlebens von Prozessen verstanden wird. Jemand erlebt etwas und dieser Prozess des Erlebens kondensiert in Erfahrung, und Simulationen repräsentieren dieses Kondensat. In diesem Prozess des Kondensierens verankern sich auch jene Konventionen, die die Erfahrung im Prozess der Repräsentation dann nachvollziehbar, ent­schlüs­selbar machen. Was muss von einem Erlebnis bestehen bleiben, damit seine Erfahrung in einer Kultur als erfahrbar betrachtet wird? Simulationen müssen nicht dokumentarischen Charakter in dem Sinn haben, dass sie mehr oder weniger etwas Reales authentisch zeigen - vielmehr bemühen sie sich um einen authentischen Eindruck von Erfahrung und damit auch eine kulturelle und konventionelle Auffassung vom Erleben und Durchleben eines Prozesses. Zugespitzt machen Simulationen Repräsentationen von Erfahrung erfahrbar.

Simulation als Grenze

Eine Simulation zielt also darauf ab, dass etwas erfahren wird; das, was durch die Simulation erfahren wird, ist aber die vermittelte Erfahrung. Um es konkreter zu machen: In einer Eisenbahnsimulation wird eben nicht erfahren, wie es sich anfühlt, eine Eisenbahn zu fahren – es wird vor allem erfahren, wie die kulturellen Konventionen aussehen, die mit dem Fahren einer Eisenbahn verbunden sind. Ein hoher Grad an Realismus einer Simulation bspw. in professionellen Flugsimulatoren, die zur Flugausbildung eingesetzt werden, ist freilich hilfreich bei der Übertragung von bestimmten Handlungsabläufen vom Simulator in das Cockpit. Dennoch bleibt die Simulation in ihrer Komplexität reduziert. Selbst im – nur theoretisch zu denkenden – Extremfall, in dem die Simulation und das Simulierte deckungsgleich wäre, gäbe es einen entscheidenden Unterschied zwischen beidem: die Simulation würde als Simulation perspektiviert werden. Die Grenze zwischen Simulation und Mehr-als-Simulation (etwas ‚Echtem‘) ist – so soll hier vermutetet werden – in letzter Instanz eine harte Grenze, die ausschließlich durch die Beobachtung, durch die Verhandlung bestimmt und/oder überschritten wird. Wenn die Simulation dem Simulierten gegenübersteht, dann kann Simulation nicht zugleich das Simulierte sein. Dieses Detail ist für die folgenden Überlegungen von zentraler Bedeutung: Eine Simulation markiert immer auch die Grenze zwischen dem Simulierten und der Simulation selbst. Damit markiert sie die Grenze des Erfahrbaren. Erfahrbar ist sie als Simulation – was den gesamten kulturellen Überschuss beinhaltet. Sie macht nicht das Simulierte selbst erfahrbar, wohl aber die kulturelle Auffassung davon, was es bedeuten würde, das Simulierte zu erfahren. In Ihrer Erfahrbarkeit ist also die Grenze zur Nicht-Erfahrbarkeit immer schon angelegt, oder anders gesagt: Simulationen sind immer Grenzerfahrungen.

Grenzen als Simulation

Es ist nun kein rhetorischer Trick, wenn im Folgenden die Formulierung umgedreht wird und wenn also über Grenzen als Simulation nachgedacht wird, denn das Erfahren einer Grenze kann Gegenstand einer Simulation sein. Drei Computerspiele machen dies in den letzten Jahren deutlich: 1378(km), Frontiers und Papers, please. 8 Allen dreien gemeinsam ist, dass sie ein Simulationsspiel rund um politische, soziale und territoriale Grenzen entfalten – sie simulieren den Umgang mit der Materialität territorialer Grenzen, die noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts keine zentrale Bedeutung hatte. 9 Dabei ist der Fokus jedoch auf jeweils unterschiedliche Aspekte gerichtet: das Übertreten der Grenze, die Reise oder Flucht also, das Verteidigen der Grenze und die Ideologie der Grenze.
Im Spiel 1378(km):

“Der Spieler wird in dem Serious Game 1378(km) an unter­schied­liche innerdeutsche Grenzabschnitte in das Jahr 1976 versetzt. Dabei ist es dem Spieler möglich in die Rolle des Grenz­soldaten der DDR oder die des Republikflüchtlings zu schlüpfen. In detailliert nachgebauten Szenarien an den jeweiligen Grenzabschnitten zwischen der Bundesrepublik Deutschlands und der Deutschen Demokratischen Republik, kann die dramatische Situation haut-nah erlebt werden.“ 10

Das Spielkonzept von 1378(km) findet seine Fortsetzung im Spiel Frontiers:

„It portrays a refugee itinerary from the sub-Sahara region to Europe. As a refugee or border patrol you’ll get to know the border and the life behind it from both sides – in the Sahara, the Spanish City Ceuta, the beaches in southern Spain or the rainy Container port of Rotterdam.” 11

In diesen beiden Spielen ist durch die Markierung realer Orte und Länder ein dokumentarischer Charakter angelegt. Als Simulationen versuchen sie sich daran, die Prozesse von Einhaltung und Überwindung von realen Grenzen erfahrbar zu machen. Schließt man nun an die Überlegungen an, die weiter oben angestellt wurden, dann zeigt sich vor allem der folgende Aspekt als interessant: Die Komplexität einer Erfahrung wird in einer Simulation auf das reduziert, was kulturell als notwendig betrachtet wird, um die Erfahrung erfahrbar zu machen. Wie wird hier also Komplexität erfahren und welche Erfahrungen werden ausgestellt? Die symbolische Aufladung der Grenzen, die hier thematisiert werden, ist durch den dokumentarischen Charakter und das implizite Versprechen von Authentizität außerordentlich hoch und die daraus resultierende Komplexität wird – so kann man kritisieren – auf ein triviales Spiel, auf eine Kombination von Verstecken und Fangen reduziert. Innerhalb der kon­tro­versen Diskussion insbesondere um 1378(km) in breiterer Öf­fen­tlich­keit wurde diese Komplexitätsreduktion scharf kritisiert. 12 Und die Kritik ist durchaus nachvollziehbar, denn all das, was an individuellem Leid und an persönlichen Erfahrungen und an juristischen und menschlichen Verbrechen an diesen Grenzen erlebt wird und wurde und stattfindet bzw. stattgefunden hat, das kann durch diese Spiele nicht erfahrbar gemacht werden.

Was diese Spiele aber durch ihre Komplexitätsreduktion schaffen, das ist etwas ganz anderes: sie machen die spieltheoretische Seite von Ent­schei­dun­gen und damit eine kalte Mechanik von Grenzen deutlich. Die Handlungen der Grenzer und der Flüchtlinge werden in ein System von Bonus- und Maluspunkten überführt und die Spieler auf beiden Seiten treffen ihre Entscheidungen in Abhängigkeit von diesem System. Die juristischen und ethisch-moralischen Vorstellungen, wie man bspw. als Grenzwache vorgehen muss/soll/darf und wie nicht, wird überführt in eine simple binäre Codierung: mit welcher Entscheidung ist man innerhalb der Regeln erfolgreich, mit welcher nicht. Das hat natürlich nichts mit den Erfahrungen zu tun, die ein Flüchtling oder eine Grenzwache macht. Aber diese Reduktion stößt fast zwangsläufig eine Diskussion über die Entscheidungsgrundlagen an, auf Grund derer die Menschen an den Grenzen handeln. Diese Entscheidungsgrundlage ist die Ideologie der Grenze und die Spiele zeigen zwar nicht das Individuelle, das Einzelne, aber sie legen ein Prinzip frei. Ob diese Komplexitätsreduktion zu radikal ist, ob das Prinzip zu undifferenziert rekonstruiert wird, das ist eine Frage, die in der Kritik und in den Diskussionen um die Spiele verhandelt wird.

Genau darin liegt das Entscheidende, was diese Spiele erfahrbar machen: In der Diskussion um die Komplexitätsreduktion wird darüber gesprochen, was als wesentliche und als unwesentliche Kriterien dafür betrachtet wird, um diese Erfahrungen an einer Grenze erfahren zu können. Erfahrbar gemacht werden nicht die Grenzen selbst, nicht die Probleme bei der Entscheidung, ob man als Grenzwache auf einen Flüchtling schießt oder nicht. In der Metadiskussion über den Status dieser Spiele als Simulation/Nicht-Simulation kommt die individuelle Erfahrung, die Haltung, die Überzeugung, die Ideologie der jeweiligen Grenze zum Ausdruck. Das Spielprinzip, das radikal Komplexität reduziert, wird zum Ausgangspunk für Komplexität. Und mehr können diese Spiele möglicherweise gar nicht leisten. Aber vielleicht ist auch schon viel gewonnen, wenn der Diskurs am Laufen gehalten wird.

Papers, Please hingegen ist keine Dokumentation einer realen bzw. historisch realen territorialen Grenze, denn alle Länder sind fiktiv: „The communist state of Arstotzka has ended a 6-year war with neighboring Kolechia and reclaimed its rightful half of the border town, Grestin.” 13 Das Spiel simuliert die Arbeit eines Grenzers, der die Einreise nach Arstotzka kontrolliert.

„Your job as immigration inspector is to control the flow of people entering the Arstotzkan side of Grestin from Kolechia. Among the throngs of immigrants and visitors looking for work are hidden smugglers, spies, and terrorists. Using only the documents provided by travelers and the Ministry of Admission's primitive inspect, search, and fingerprint systems you must decide who can enter Arstotzka and who will be turned away or arrested. “ 14

Als dokumentarisch kann bestenfalls die Idee von einer Grenze eines kommunistischen Staates angesehen werden, denn alles ist stark stilisiert. Wie wird nun hier Komplexität reduziert und Erfahrung erfahrbar gemacht? Auch hier wird die Handlung des Spielers durch ein Bonus-/Malus-System bewertet, das seinen Ausdruck darin findet, dass der Spieler seine Familie wirtschaftlich versorgen kann oder nicht. Im schlimmsten Fall sterben die Familienmitglieder an Krankheiten, sie erfrieren oder verhungern. Der ethisch-moralische Druck, für eine Familie Ver­ant­wor­tung zu übernehmen, wird darauf reduziert, Nahrung, Heizung, Miete und Medizin zu bezahlen. Dem gegenüber wird die Arbeit als Grenzer im Laufe des Spiels zunehmend komplexer. Die Zahl der Regeln, die beachtet werden müssen, werden mehr, und die Regeln ändern sich häufig. Zu­sätz­liche einzelne Anforderungen, Sonderwünsche und eine fortlaufende Verschwörungsgeschichte steigern die Komplexität des Spiels zusätzlich.

Die Dichotomie einer Grenze, die einfache und harte Trennung eines Raumes in zwei Seiten, wird zum Impuls für eine Komplexitätssteigerung, die in vielen Fällen zum Scheitern führt. Die Überforderung des Spielers durch diese Komplexitätssteigerung wird zum zentralen Spielprinzip, das damit die eigenen Folgen performativ ausstellt: Die harte Trennung der Grenze führt zu komplexen Problemen, zu Dilemmata – und diese Dilemmata werden erfahrbar. Simuliert wird also nicht die Arbeit als Grenzer, sondern das Scheitern des Einzelnen an der Ideologie der Grenze, die sich an der Durchlässigkeit durch die Grenze, an den Regeln, die diese Durchlässigkeit organisieren sollen, und vor allem an den Bedingungen für den Zerfall der Materialität einer Grenze durch Korruption, Ignoranz oder Gewalt entfaltet.

Simulationen von Grenzen – das haben die genannten Beispiele gezeigt – machen nicht die Grenzen in dem Sinne erfahrbar, in dem sie ein Mensch als Grenzer, als Reisender oder als Flüchtling erfährt. Die Komplexität von Grenzen kann nicht simuliert werden, weil Simulationen nie die gesamte Komplexität von Prozessen abbilden können. Sie müssen vereinfachen und in der Vereinfachung steckt ein interpretatorisches Moment, denn Komplexitätsreduktion bringt die Notwendigkeit mit sich, dass man festlegt, was man aus- und was man einschließt. Der Akt der Simulation ist also ein Akt einer Beobachtung, die eine Grenze zieht zwischen dem, was beobachtet – hier also simuliert – wird, und was nicht. Das Dokumentarische in einer Simulation kommt vor allem dort zum Ausdruck, wo Dokumentation als Setting der Simulation einen Knotenpunkt für einen folgenden Diskurs anbietet; dort, wo ausschnitthaft die Komplexität von Prozessen gar nicht (oder kaum) reduziert wird, deutet sich eine Dokumentation von Prozessabläufen an. Dokumentation findet hierbei auf abstrakter Ebene statt – und wo ein Medienrezipient aktiv in diese Dokumentationen von Prozessen eingreifen kann, schlagen sie um in Simulationen.

Ein letzter Aspekt soll noch aufgenommen werden: Es wurde weiter oben darauf hingewiesen, dass als Vergleichsgrundlage für Simulationen häufig andere Medienereignisse dienen. Das gilt nun nicht nur für den Nutzer einer Simulation (den Spieler), sondern in besonderem Maße auch für den Produzenten. Der Akt der Komplexitätsreduktion im Simulationsspiel verlangt ein hohes kulturelles Wissen um das, was als wesentlicher Bestandteil eines Ausschnitts von Welt betrachtet wird, damit er als authentisch wahrgenommen wird. Dieses Wissen muss nun gerade nicht zwangsläufig eines aus erster Hand sein – in vielen Fällen scheint es sogar erheblicher zu sein, welches Wissen an anderer Stelle – in der Literatur, im Film – schon vorhanden ist. Wenn die Komplexitätsreduktion für eine Simulation immer auch ein Akt der Interpretation ist, dann ist die Frage, nach welchen Regeln dieser Interpretationsakt vollzogen wird. Der Vorschlag hier, der an anderer Stelle noch weiter ausgearbeitet werden soll, ist, dass diese Regeln in einem intermedialen Gefüge zu suchen sind. Literatur und Film sind möglicherweise Orte der Theorie für die Prozesse, die bei einer Simulation von Bedeutung sind.

Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien

Literatur

Bernd Stiegler: Simulakrum. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Herausgegeben von Alexander Roesler und Bernd Stiegler. Paderborn: Fink, 2005. S. 222-228.

Engell, Lorenz: „Teil und Spur der Bewegung. Neue Überlegungen zu Iconizität, Indexikalität und Temporalität des Films“. In: Daniel Sponsel (Hg.): Der Schöne Schein des Wirklichen. Zur Authentizität im Film. Konstanz: UVK, 2007. S. 15- 40.

Hohenberger, Eva: Dokumentarfilmtheorie. Ein historischer Überblick über Ansätze und Probleme. In: Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Berlin: Vorwerk, 1998. S. 8-34

http://de.wikipedia.org/wiki/Gran_Turismo_(Spieleserie) [11.12.2014].

http://papersplea.se/

http://www.1378km.de/presse.html

http://www.frontiers-game.com/

Rutz, Andreas: „Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte. Probleme und Perspektiven“. In: Eva Geulen u. Stephan Kraft (Hg.): Zeitschrift für deutsche Philologie. Band 129. Sonderheft 2010. . Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2011. S7-32.

Scheffer, Bernd: Medien als Passion (Einleitung). In: Medienobservationen: http://www.medienobservationen.uni-muenchen.de/artikel/theorie/scheffer_medienpassion.html [04.05.2015].

Schellong, Marcel: Das Problem mit dem Toilettenschild. Zu Repräsentation und Simulation von Geschlecht im Computerspiel. In Marcel Schellong u. Tobias Unterhuber (Hg.): PAIDIA. Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.12.2014. https://www.paidia.de/?p=5262 [04.05.2015].

Spiele

gold extra: Frontiers. 2012; http://www.frontiers-game.com/.

Pope, Lucas: Papers, Please. 2013; http://www.papersplea.se/.

Stober, Jens M.: 1378(km). 2010; http://www.1378km.de/.

  1. Hohenberger, Eva: Dokumentarfilmtheorie. Ein historischer Überblick über Ansätze und Probleme. In: Bilder des Wirklichen: Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Berlin: Vorwerk, 1998. S. 8-34. Hier S. 27. (Hervorhebungen M.S.) []
  2. Engell, Lorenz: „Teil und Spur der Bewegung. Neue Überlegungen zu Iconizität, Indexikalität und Temporalität des Films“. In: Daniel Sponsel (Hg.): Der Schöne Schein des Wirklichen. Zur Authentizität im Film. Konstanz: UVK, 2007. S. 15- 40. Hier S. 16.[]
  3. Vgl. Schellong, Marcel: Das Problem mit dem Toilettenschild. Zu Repräsentation und Simulation von Geschlecht im Computerspiel. In Marcel Schellong u. Tobias Unterhuber (Hg.): PAIDIA. Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.12.2014. https://www.paidia.de/?p=5262 [04.05.2015].[]
  4. Scheffer, Bernd: Medien als Passion (Einleitung). In: Medienobservationen: http://www.medienobservationen.uni-muenchen.de/artikel/theorie/scheffer_medienpassion.html [04.05.2015]. []
  5. Stiegler, Bernd : Simulakrum. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Herausgegeben von Alexander Roesler und Bernd Stiegler. Paderborn: Fink, 2005. S. 222-228. Hier: S. 225[]
  6. Ebd. []
  7. http://de.wikipedia.org/wiki/Gran_Turismo_(Spieleserie); [11.12.2014].[]
  8. 1378(km): Entwickler: Jens M. Stober; veröffentlicht 10.12.2010; http://www.1378km.de/; Frontiers: Entwickler: gold extra; veröffentlicht Februar 2012; http://www.frontiers-game.com/; Papers, Please: Entwickler: Lucas Pope; veröffentlicht 08.August 2013; http://www.papersplea.se/; [04.05.2015] []
  9. Vgl. Rutz, Andreas: „Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte. Probleme und Perspektiven“. In: Eva Geulen u. Stephan Kraft (Hg.): Zeitschrift für deutsche Philologie. Band 129. Sonderheft 2010. . Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2011. S7-32. Hier S. 17.[]
  10. http://www.1378km.de/ [04.5.2015] []
  11. http://www.frontiers-game.com/ Dort Menüpunkt Game -> Concept. ([04.5.2015] []
  12. Vgl. die Pressestimmen zum Spiel: http://www.1378km.de/presse.html [04.5.2015] []
  13. http://papersplea.se/ Dort FAQs. [04.5.2015] []
  14. Ebd.[]

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Schellong, Marcel: "Simulation als Grenzerfahrung – Grenzerfahrung als Simulation". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 06.05.2015, https://paidia.de/simulation-als-grenzerfahrung-grenzerfahrung-als-simulation/. [19.03.2024 - 11:57]

Autor*innen:

Marcel Schellong

Dr. Marcel Schellong ist Referent für Studium und Lehre am Institut für Deutsche Philologie der LMU München. Weitere Informationen zur Person unter www.marcelschellong.de. Interessen und Arbeitsschwerpunkte: Theorien der Semiotik, nichtlineare Erzählmedien, Verhältnis von Spielen und Erzählen, Medienwissenschaft/Intermedialität, Literatur in München/Bayern.