Anno 2070: Jeder Weltuntergang ist ein neuer Anfang

30. Juni 2012

„Statusupdate: Erde. Aktuelles Jahr: 2070. Kontinuierlich steigender Meeresspiegel verändert Ökosysteme. Zahlreiche Küsten überflutet, weitere Regionen gefährdet. Etliche Küstenmetropolen aufgegeben. Dürren und Missernten verursachen Völkerwanderungen. Nationale Strukturen verlieren an Bedeutung, die bekannte Ordnung versinkt mit den Küstenstädten im Meer. Klimawandel verschärft Verteilungskampf um verbleibende Rohstoffe. Umdenken erforderlich.“

Mit diesen Sätzen beginnt der Prolog von Anno 2070, dem neuesten Titel der „Anno“-Serie von Ubisoft (einer Reihe von Aufbaustrategiespielen). Sie verdienen besondere Aufmerksamkeit, denn sie etablieren in kurzen (Schlagzeilen imitierenden) Sätzen ein Setting, das sich grundlegend von dem der bisherigen vier Vorgänger unterscheidet: Anno 2070 spielt nicht im Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit, wie Anno 1602, -1503, -1701 und -1404 (fun fact: Die Quersumme der Zahlen jedes Anno-Titels ergibt immer 9), sondern einer futuristischen Welt, die sich durch die zerstörerischen Auswirkungen des Klimawandels grundlegend verändert hat.
Damit ist Anno 2070 – neben Daedalics Adventure A New Beginning und dem Strategiespiel Fate of the World – eines der ersten kommerziellen Computerspiele, die sich direkt mit diesem brisanten und heiß diskutierten Phänomen beschäftigen (der Klimawandel wurde davor meist nur von sogenannten Serious Games behandelt.
Der folgende Artikel ist dabei nicht primär Review, sondern eine Untersuchung der Verarbeitung des Klimawandels und der Raumverhältnisse in Anno 2070. Dabei versuche ich, folgende Fragen zu beantworten:
- Wie wird die Zukunft bzw. der Klimawandel im Spiel umgesetzt?
- Verträgt sich der Klimawandel mit dem Gameplay und der Botschaft der Anno-Reihe?
- Wie viele Atomkraftwerke kann man auf einer Insel bauen, bevor es zu einem SuperGAU kommt? (Fangfrage)

Virgin Soil

Ein (wortwörtlich) oberflächlicher Blick auf die Spielewelt von Anno 2070 bietet noch keine großen Überraschungen zu den Vorgängern: Je nach Kartengröße besteht die Welt aus Dutzenden von fruchtbaren Inseln verschiedener Formen und Größen, die nur auf ihre Besiedelung warten.
Dabei bietet jeder Teil dieser jungfräulichen Inselwelt eigene Ressourcen: Jede Insel ist nur für den Anbau einiger weniger Pflanzenarten (aus einer langen Liste von Früchten, Gemüsesorten und Getreiden) geeignet, manche bleiben sogar völlig ungeeignet für die Landwirtschaft. Kleine Bergzüge bieten zudem Zugang zu Mineralien und Erzvorkommen, die durch automatisierte Bergwerke ausgebeutet werden können.

Weiße Flecken auf der Landkarte?

Die Existenz dieser unberührten und ressourcenreichen Inselarchipele verwundert um so mehr, wenn man sich wieder ins Gedächtnis ruft, in welcher Zeitepoche Anno 2070 spielt – besonders im Vergleich zu seinen (kolonialen) Vorgängern:
Das Zeitalter vermeintlich unbegrenzter räumlicher Expansion, das mit Ereignissen wie Columbus' Entdeckungsreisen oder der ersten Weltumsegelung Magellans um 1500 herum begann, dauerte nur wenige Jahrhunderte.

"Here be Dragons"? Die sog. Caverio-Weltkarte, entstanden ca. 1505.

Schon um 1900 mussten westliche Beobachter mit einem Blick auf ihre Landkarten feststellen, dass die weißen Flecken, also die unbekannten und noch auf ihre Entdeckung (bzw. Ausbeutung, wir befinden uns hier im Zeitalter des Imperialismus) wartenden Territorien rapide vom Globus verschwanden. Ehemals unbesiedelte Gebiete waren schon längst urbar gemacht worden – ihre Ressourcen unterstützen das explosionsartige Wachstum existierender Metropolen und Staaten. Der mythologisierte „virgin soil“ des Kolonialismus und die damit verbundene Hoffnung auf ewige Expansion bzw. unbegrenztes Wachstum (eine Illusion, die bis heute im Bereich der Ökonomie Macht besitzt) wurde spätestens seit den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts immer mehr von Ängsten der Überbevölkerung  und der Sorge über ein Versiegen wichtiger Ressourcen (Stichwort „Peak Oil“) ersetzt. Nachdem der Globus selbst keine neuen 'Grenzen' bieten konnte, wurde der Weltraum zur neuen Hoffnung weiterer menschlicher Expansion – sprichwörtlich gemacht in Star Treks „Space. The final frontier.“
Anno 2070 wählt jedoch bewusst nicht diesen Ausweg. Der Titel bleibt auf dem (Erd)boden der Tatsachen: Einerseits natürlich, weil die Anno-Spielereihe ikonisch mit dem Konzept der Erschließung einer Inselwelt verbunden ist, möglicherweise vielleicht auch, weil die Aussichten für eine menschliche Besiedelung des Weltraumes in absehbarer Zeit denkbar schlecht erscheinen (zahlreiche Unfälle, massive Budgetkürzungen für neue Projekte, etc.). Trotzdem lohnt es sich, diese Gedankengänge im Hinterkopf zu behalten – die Verwertung des (Welt)Raumes in Anno 2070 ist nämlich sehr viel komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint.

Der Segen des Klimawandels

So destruktiv und unheilverkündend die Auswirkungen des Klimawandels im Prolog auch klingen mögen: Auf der Spieleebene sind sie genau das, was ein Titel der Anno-Reihe braucht.
Die unberührten Inselwelten, die die Vorgänger in der Karibik bzw. in einem Mischmasch kolonialer Territorien lokalisierten, existieren in der Zukunft des Jahres 2070 nicht mehr. Sie wurden längst besiedelt und wurden zu einem Teil der Nationen, die durch den Anstieg des Meeresspiegels in den Fluten versanken! Diese Katastrophe ist jedoch gleichzeitig der Schlüssel zu neuem unberührten Land: Die neuen „Inseln“, die der Spieler besiedeln kann, existierten früher als die Hochplateaus oder Berggipfel nun längst versunkener Gebiete – was früher unzugänglich oder unfruchtbar war, dient nun als Grundlage einer neuen Zivilisation.
Die Vergangenheit verliert jedoch mit dem Untergang der alten Welt keineswegs ihre Bedeutung für Anno 2070. Das Spiel eröffnet mit der Einführung der „Techs“, einer forschungsorientierten Zusatzfraktion, den Zugang zur Unterwasserwelt. Mit ihren Unterseebooten ist der Spieler in der Lage, eine zweite, sonst nicht zugängliche Raumebene zu erforschen: den Ozean. Die unterseeische Welt bietet nicht nur spektakuläre Anblicke wie von Fischen wimmelnde Korallenriffe und rot glühende Unterseeschornsteine – sog. „black smokers“, sondern ermöglichen auch einen Blick auf die versunkenen Ruinen alter Städte.

Die Wunder der Tiefsee

Doch der Meeresgrund ist mehr als nur Dekoration: Auf höhergelegenen Plateaus können mit Gebäuden der Tech-Fraktion neue Basen gebaut werden, die den Anbau von Meeresalgen (als Nahrungsquelle) oder die Ausbeutung unterseeischer Ölreserven und Energiequellen (die eben genannten „black smokers“) ermöglichen. Diese neuen Ressourcen sind wiederum unabdinglich für die Erfüllung der Bedürfnisse der „Tech“-Population. Nur mit Zugriff auf Energydrinks und Kohlenstoffphasern entwickeln sich Laborassistenten zu ausgewachsenen Forschern, welche in auf dem Festland angelegten Laboratorien neue Technologien erforschen. Die Grundlage für diese neuen Entwicklungen finden sich wiederum auf dem Meeresgrund: Erkundungsdrohnen sind in der Lage, fortschrittliche Artefakte aus versunkenen Laboratorien zu bergen. Diese werden von den Forschern auseinandergenommen und analysiert – ausnahmsweise ist das fortschrittliche Treibgut nicht außerirdischen Ursprungs, sondern entstammt „unserer“ heutigen Zivilisation.

Die Vergangenheit (Mitte) als weitere Ressourcenquelle

Die lieben Nachbarn – postapokalyptische Gesellschaft

Doch auch wenn es scheint, dass die Vergangenheit größtenteils unter der Meeresoberfläche gebannt bleibt, bleiben zumindest genug „Artefakte“ an der Oberfläche, um den Spieler an das eigentlich postapokalyptische Setting zu erinnern. Manche Inseln beherbergen die Überreste alter Nuklearwaffen oder noch funktionierende Atmosphärenbereiniger aus der Zeit vor dem großen Kollaps – beides Elemente, die den Spieler in seinen Expansionsplänen behindern oder unterstützen können.
Die stärkste Verbindung zu traditionellen postapokalyptischen Szenarios bietet Anno 2070 jedoch in seinen NPCs. Neben konventionellen Konkurrenten in der Form von expansiven Ölmagnaten und friedliebenden Kommunenbewohnern bietet das Spiel auch exzentrischere Persönlichkeiten, die auch gleich gut aus Kevin Costners Film Waterworld (1995) stammen könnten: Dazu zählt ebenso der mit Dreadlocks und Kriegsbemalung versehene Pirat Hektor – eine ständige Gefahr für den Handelsverkehr – wie auch „Trenchcoat“, ein nomadischer Händler, der dringend benötigte Ressourcen und Technologien an den Höchstbietenden verkauft.

Apokalyptischer Abenteuerspielplatz: Ein Blick auf Hektors Piratenbasis

Beide residieren in typischen Geländemarken jeder postapokalyptischen Welt: Hektors Piratenbasis besteht aus den halb untergegangenen Ruinen eines einst glänzenden Wolkenkratzers, die über den Trümmern einer untergegangen Metropole hervorragen; Trenchcoat befährt das Meer in einem verrosteten Flugzeugträger, der von bunten Partylichtern und Werbebeleuchtung erhellt wird, während Schweine und Betrunkene auf dem Deck herumtollen. Diese Zweckentfremdung eines Flugzeugträgers wird Spieler sicherlich an Fallout 3 erinnern (das momentan bekannteste Spiel mit einem postapokalyptischen Setting), wo ein gestrandeter Flugzeugträger zu einer Stadt – Rivet City – umfunktioniert wurde und als eine der wenigen überlebenden Gemeinden des „Capital Wasteland“ zu einem Besuchspunkt für den Spieler wird.

Trenchcoat's Flugzeugträger: Laissez-Faire auf dem Meer

Dagegen das sehr viel trostlosere Vorbild: Eine Konzeptskizze von "Rivet City"

Beide Figuren bringen zumindest einen kleinen Klecks Anarchie in eine Welt, die sich – trotz eines wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruchs – in geordneten Bahnen bewegt.

Brave New World

Statt dem von postapokalyptischen Settings sonst zu erwartenden Chaos bietet Anno 2070 eine fest definierte Ordnung: Zwei globale Organisationen konkurrieren um die Aufmerksamkeit und Loyalität des Spielers. Am Anfang jeder Partie steht dabei auch die Entscheidung für eine von beiden Fraktionen (mit allen Vor- und Nachteilen), eine dritte (neutrale) steht jedoch Spielern beider Seiten zur Verfügung.
Territoriale Konflikte zwischen Nationalstaaten, die von vielen anderen (Strategie-)Spielen selbst bis in die letzten Winkel der Galaxie projiziert werden, stehen in Anno 2070 nicht mehr zur Debatte: Die neue Zivilisation teilt sich nicht länger entlang ethnischer, religiöser oder territorialer Grenzen und Unterschiede, sondern nach der Bekenntnis zu Ideen, oder besser ökonomisch und ökologisch ausformulierter Antworten auf die im Prolog implizierte Frage nach einem Umdenken im Angesicht des Klimawandels. Die beiden vom Spiel angebotenen Lösungswege finden ihre (vereinfachte) Repräsentation in den Primärfraktionen, den Tycoons des Global Trust und den Ecos der Eden Initiative.

 Konsumieren, bis es wehtut - Die Tycoons

Die Tycoons erinnern sowohl in ihrer Optik als auch in ihrer Spielweise stark an Stereotype einer Industriegesellschaft amerikanischer Prägung: Riesige Fabrikkomplexe mit rauchenden Schloten und hämmernden Maschinen, Wohnkasernen und dystopische grau-braune Industriearchitektur prägen das Aussehen der entwaldeten Tycoon-Inseln.

Eine typische Tycoon-Insel (der Tornado im Hintergrund ist eine Folge der negativen Ökobilanz, zerstört aber genau so die Inseln der Eco-Konkurrenten, ätschbätsch)

Die Bedürfnisse der Bürger folgen der Charakterisierung einer verschwendungssüchtigen und manipulativen Konsumgesellschaft: Schon die Grundform des Tycoon-Bürgers, der Tycoon-Angestellte, benötigt zum Aufstieg in eine höhere Siedlungsstufe neben ständiger Alkoholversorgung auch Zugang zu einem Casino. Höhere Angestellte benötigen dazu noch Hamburger und andere Fertigmahlzeiten, große Mengen an Plastikgeschirr und Zugriff zu „Informationen“ (in Anführungszeichen geschrieben, weil diese durch ein Gebäude namens „Ministerium der Wahrheit“ (vgl. 1984) vermittelt werden). Die höchste Form des Tycoon-Bürgers, der Executive, benötigt neben all diesen Produkten auch Champagner, mit Trüffeln versetzte Luxusmahlzeiten, Diamantenschmuck und pharmazeutische Produkte. Konsum ist alles.
Wirtschaftlich stehen die Tycoons ebenfalls für die ökologisch besorgniserregendsten Auswüchse der Industrialisierung. Die Abhängigkeit von fossilen Energien – Kohle und Erdöl – macht schon die Energieerzeugung zu einem ökologisch höchst besorgniserregenden Faktor: Die Kohle- und Atomkraftwerke der Tycoons schädigen die Umwelt ihrer Inseln sehr viel stärker als die alternativen Energiequellen der Ecos (sind aber insofern effizienter, da sie meist sehr kompakt sind und keinen begrenzten Wirkungsradius besitzen). Die Produktionskreisläufe der für den Aufstieg von Tycoon-Bürgern in höhere Steuerklassen benötigten Ressourcen (Beton, Stahl, Plastik und Uran) sind nicht nur sehr komplex, sondern ebenfalls stark belastend für die Umwelt – so belastend, dass sich die betroffenen Inseln ohne weitere Gegenmaßnahmen in Blade Runner-eske Umweltdystopien verwandeln.

Vollkommener Ökologischer Kollaps: Blade Runner

Auf dem Weg: Eine Tycoon-Produktionsinsel

Ideologisch identifizieren sich die Tycoons mit dem Stichwort „Effizienz“ – eine ambivalente Aussage: Natürlich sind ihre Anlagen, Fabriken und Farmen sehr viel platzsparender als die der Ecos, verpesten aber sehr schnell die Umwelt ihrer Inseln, was zumindest bei der landwirtschaftlichen Produktion bald zu starken Einbußen führt und bereits ab sehr niedrigen Werten auch die Zufriedenheit der Bevölkerung beeinträchtigt. Dazu kommen auch noch die Nebenwirkungen der fraktionsspezifischen Gebäude: Das Atomkraftwerk produziert zwar sehr viel Energie, tendiert aber ohne spezielle Kontrolltechnologien zu mal mehr, mal weniger spektakulären Unfällen, die die Bevölkerung zu Protesten auf die Straße treiben und schlimmstenfalls als Super-GAU die Insel dauerhaft radioaktiv verseuchen.
Es lässt sich also feststellen: Die Tycoons folgen in ihrer Produktionslogik exakt dem Weg, der den Klimawandel und damit das Ende der (heutigen) Zivilisation in der Vergangenheit des Spieles erst ermöglicht hat: Konsum und Wachstum um jeden Preis, die maximale Ausnutzung jeder vorhandenen Ressource, und dies so schnell wie möglich.

Es ist nicht leicht, grün zu sein: Die Eden Initiative

Die Ideologie der Eden Initiative stellt das genaue Gegenteil zu den verschwenderischen Tycoons dar: Die Ecos setzen auf erneuerbare Energien, nachwachsende Rohstoffe und umweltfreundliche Technologien und versuchen, die Ökobilanz ihrer Inseln im Gleichgewicht zu halten.

"Natürlich können wir den Klimawandel aufhalten! Wenn Fische fliegen können...oh." Der mobile Ozongenerator Mk II

Umweltfreundliche, aber ineffiziente Wind- und Solarkraftwerke machen den Hauptteil der Eco-Energieproduktion aus. Während Eco-Baumaterialien und Ressourcen in den meisten Fällen erneuerbar (Tee, Holz, Gemüse, Reis) oder ohne größere Eingriffe in die Umwelt herzustellen sind, brauchen ihre Produktionskreisläufe jedoch meist sehr viel mehr Platz als die Tycoons – so ist es normal, wenn ganze Inseln nur für die Bewirtschaftung organischer Farmen abgestellt werden müssen. Der Umweltschutz ist dabei sozusagen schon in die Produktionsprinzipien der Ecos eingebaut: Da Farmen mit starken Produktionseinbußen auf eine schlechte Ökobilanz reagieren, würde umweltschädigendes Verhalten, d.h. eine sehr schlechte Bilanz einen Zusammenbruch der Produktion nach sich ziehen. Um dies zu verhindern, sind Eco-Spielern besonders viele Werkzeuge zur Umkehrung solcher Trends an die Hand gegeben: Die Möglichkeiten der futuristischen Technologie des Jahres 2070, die Ökobilanz einer Insel zu verbessern, reichen von Wetterkontrollstationen über CO-2-Reservoirs (in Minenschächten) bis hin zu exotischen Ozongeneratoren in der Form fliegender Fische. Mit diesen Einrichtungen kann ein Eco-Spieler seine Inseln in saftige, im Sonnenlicht glitzernde Landschaften verwandeln, in denen organisch gestaltete Häuser inmitten von Wäldern und Feldern stehen – so natürlich, als wären sie selbst wie Pflanzen auf ihrem Bauplatz gewachsen.

Les paradis artificiels - eine Ecosiedlung

Expansion und Sieg

Nach dieser detaillierten Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen beider Seiten stellen sich natürlich einige Fragen: Ist eine Seite – rein spielerisch – besser als die andere? Und wie hängt dies mit der moralischen Charakterisierung beider Fraktionen zusammen? Mit anderen Worten: Versucht Anno 2070, Spieler – vor allem im Kontext einer so moralisch geladenen Frage wie der zum Klimawandel – im Bezug auf den „richtigen“ Lösungsweg zu beeinflussen? Zumindest nach dem bisherigen Stand (Patches, etc. können die Balance zwischen Seiten immer noch verändern) sind beide großen Fraktionen spieltechnisch trotz ihrer Stärken und Schwächen ungefähr gleich stark. In manchen Situationen genießt eine Seite einen Vorteil (Tycoons kommen sehr viel besser mit einem geringen Raumangebot zurecht, etc.), aber im Verlauf des Spieles haben beide die gleiche Chance auf Erfolg – unabhängig von der teilweise stark negativen Charakterisierung der Tycoon-Bürger und ihrer Gesellschaft (generell bleibt die Charakterisierung aller drei Fraktionen eher oberflächlich: Die Tycoons sind konsumverliebte Kapitalisten, die Ecos friedliebende Hippies/Hipster, die Forscher von S.A.A.T. weltfremde Bücherwürmer).

Sieg ist mehr als Überleben?

Aber was ist eigentlich Erfolg?
Was sind die Maßstäbe, nach denen der Erfolg beider Lösungen gemessen werden kann? Dies ist schwierig zu beantworten, da die Siegesbedingungen bei jeder Endlospartie neu eingestellt werden können. Diese reichen von Kriterien wie den meisten Bürgern oder den meisten besiedelten Inseln über die Erforschung der meisten Technologien und die größte Armee bis zum Bau von Monumenten oder der Auslöschung aller anderen Spieler. Hier kommt es zum Bruch zwischen den Gattungstraditionen von Anno 2070 und dem höchst bedrohlich dargestellten Szenario des Spieles:
Der Sieg – wenn es Siegesbedingungen gibt – ist immer von dem der Anno-Reihe innewohnenden Spielprinzip einer kontinuierlichen Expansion und einer immer stärkeren Ausdifferenzierung von Produktion und Konsum abhängig.
Bürger entwickeln neue Bedürfnisse, welche nur durch die Produktion neuer Güter auf anderen Inseln befriedigt werden können. Diese Güter lassen die Bürger in eine neue Zivilisations-/Siedlungsstufe aufsteigen, die sie mehr Steuern zahlen lässt – aber nur, wenn ihre neuen Bedürfnisse befriedigt werden, etc, etc: Ein Expansionsprozess, der erst mit der vollkommenen Ausbeutung der Inselwelt – und nach einem Dutzend wie im Flug vergangener Spielstunden – seinen Abschluss findet: Am Ende leben die (meisten) Bürger dieser neuen Welt in einer technologischen Utopie (bzw. Dystopie, im Falle der Tycoons), in der jedes ihrer Bedürfnisse – von gebratenem Hummer über Energydrinks, PDAs, wertvollem Schmuck und Reinigungsrobotern vom Spieler befriedigt wird – trotz des Untergangs der Zivilisation.
Diese Wohlstandsspirale war immer die Erfolgsformel der Anno-Reihe – und sie funktioniert auch dieses Mal. Vielleicht aber trotz des neuen Settings anstatt wegen ihm?

„Bis zur Unendlichkeit, und noch viel weiter!“

Das Intro und einige der Minikampagnen (in der aktuellen, „Nuklearer Terror“, übernehmen Piraten die Kontrolle über Nuklearwaffen und drohen mit der Zerstörung der restlichen Zivilisation) zeichnen die Welt des Jahres 2070 als chaotischen und höchst gefährlichen Ort: Ressourcenkriege, der Zerfall von Städten, Staaten und Kontinenten und Massenmigration ließen den Spieler (hieße das Spiel nicht Anno) als logisches Spielziel eher das reine Überleben erwarten; Als Spielinhalt vielleicht das Zusammenkratzen von genug Ressourcen aus den ausgelaugten Überresten der alten Welt, um noch etwas länger durchzuhalten und einen Ausweg aus der selbst verschuldeten Misere zu finden – einen, der sich nicht mehr auf die Illusion endlosen Fortschritts verlässt.
Stattdessen bringt Anno 2070 seine eigene Lösung in Stellung: Technologie, in Kombination mit weiterer Expansion. Wachstum ist kein Problem, sondern eine Notwendigkeit: Nur durch die Ausbeutung aller Ressourcen kann der Lebensstandard der Bevölkerung genug angehoben werden, um die Erforschung utopischer Technologien zu ermöglichen, die die globalen Probleme des Jahres 2070 lösen können. Dass diese ursprünglich ebenfalls durch überhasteten Gebrauch von Technologie verursacht wurden, ist natürlich zutiefst ironisch.
In der Durchsetzung dieses Zieles erscheint es nur logisch, dass die umweltfreundlichen Ecos statt auf eine Beschränkung auf einen niedrigeren, stabilisierten Lebensstandard genau so stark auf Expansion und Konsum setzen wie die Tycoons – vielleicht noch mehr, bedenkt man die massiven Raumbedürfnisse der Eco-Produktionsgebäude. Im Umkehrschluss können die Tycoons auch ihren betont verschwenderisch/schmutzigen Lebensstil aufrechterhalten, solange sie die notwendigen Technologien zur Kompensation einsetzen, d.h. die Landschaft mit Wetterkontrollstationen vollpflastern.

Der Traum vom moralischen Konsum: Eine Eco-Metropole.

Die Behandlung von Technologie und Fortschritt als Lebensretter bleibt konsequent: So werden mit genug Forschung alle Ressourcen erneuerbar: Unfruchtbare Inseln können wieder für bestimmte Pflanzen fruchtbar gemacht werden, selbst leere Minenschächte und Ölreservoirs füllen sich wieder auf – das „Endlosspiel (Annos beliebtester Spielmodus) wird wirklich möglich!

Fazit

Der Umgang von Anno 2070 mit seinem Setting – einer Welt mitten in einer Klimakatastrophe – bleibt also sehr ambivalent:
Allein dadurch, dass es eine auch heute noch stark diskutierte Hypothese als historisches Faktum der Zukunft behandelt (kein Leugnen, der Klimawandel wird kommen), geht Anno 2070 einen mutigen Schritt. Im Gegenzug bereichert das neue Setting auch stark die Möglichkeiten der nun schon altgedienten Reihe: Nicht nur bringt das neue Design mit seinen futuristischen Gebäuden und Vehikeln neuen Wind in die ausgetretenen Pfade der historisch-mittelalterlichen Optik und Warenkreisläufe, es schafft auch die Grundvoraussetzung eines jeden Anno-Titels: Unbewohntes, jungfräuliches Land – keine Selbstverständlichkeit in modernen Settings. Dass dieses Neuland erst durch den Untergang der alten Welt entstehen kann, ist bedauerlich, aber notwendig für die Realisierung des Spieles. Im Übrigen folgt Anno 2070 auch weiter der expansiven Logik seiner Vorgänger. Das im Intro aufgeworfene „Umdenken“ findet nicht statt. Auch wenn eine ausreichend hochentwickelte Technologie das Überleben der Menschheit in Anno 2070 sicherstellen kann, bleibt die Thematik des Klimawandels nur sehr oberflächlich behandelt.

"The Road": Eine Zukunft in völliger Auflösung (Der Einkaufswagen als deplatziertes Relikt einer zerfallenen Marktwirtschaft).

Aber vielleicht muss sie es auch.
Denn Anno 2070 bleibt seinen Vorgängern und der großen Fangemeinde der Reihe verpflichtet. Diese mit Anno verknüpften Eigenschaften – also das, was das Spiel ausmacht – sind eben nicht nur auf der Ebene des Settings zu finden, sondern genau so auf der des Gameplays: Und auf dieser Ebene bleibt Anno immer dem Wachstum verpflichtet.
Stellen wir uns vor: Ein „realistisches“ Klimawandel-Echtzeitstrategiespiel, in dem der Spieler das Überleben kleiner Gemeinschaften im Chaos eines politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Zusammenbruchs verwaltet und dabei in einer ständigen Mangelwirtschaft alles dafür einsetzt, den Status Quo zu erhalten, wäre sicherlich aufregend und spannend, aber sicherlich nicht mehr Anno.
Denn den Spielen der Anno-Reihe ging es immer um einen neuen Anfang, um eine neue Welt.

Space: The final Frontier

Vielleicht ist die logische Konsequenz dieser Überlegung doch die Verlagerung zukünftiger Anno-Titel in den Weltraum, den letzten weißen Fleck unserer Wahrnehmung, nach den in Anno 2070 nun auch schon ausgeloteten und ausgebeuteten Meeresböden. Der Weltraum als neues Setting ermöglicht die Neuinszenierung einer völlig neuen „Welt“-Karte, deren unerforschte Gebiete die endlosen Ressourcen und Lebensräume bieten könnten, die Anno und seine Spieler benötigen. Vielleicht wird Anno 2502 (? Quersumme: Check!) seine Spieler statt Inseln Asteroidenkolonien erschließen lassen? Klar ist, die Erde ist ressourcen- wie spieletechnisch langsam ausgebeutet – Anno 2070 macht dies in seiner widersprüchlichen Behandlung von Wachstum und Klimawandel klar. Für ein funktionierendes „Endlosspiel“ kann es trotz vieler Einwände in Anno nur noch einen logischen (Welt-)Raum geben.

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Baumgartner, Robert: "Anno 2070: Jeder Weltuntergang ist ein neuer Anfang". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 30.06.2012, https://paidia.de/anno-2070-jeder-weltuntergang-ist-ein-neuer-anfang/. [19.04.2024 - 01:56]

Autor*innen:

Robert Baumgartner

Promotion zum Thema "Sinn(es)-Welten. Die Wirkungsästhetik von Computerspielwelten." (Veröffentlichung im Sommer 2021). Seine besonderen Forschungsinteressen umschließen Fantastik (in Theorie und Texten) und Computerspielforschung. Er ist Redakteur von Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung und Mitherausgeber des Sammelbandes I’ll remember this – Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. (Hülsbusch 2016).