Dear Alice, ...

31. Oktober 2012

Handlungsunfähigkeit als Gestaltungsform in Computerspielen

Warum fallen manche Dinge erst dann auf, wenn sie nicht mehr da sind? Weil wir sie als grundlegenden Bestandteil eines bestimmten Kontextes wahrnehmen und somit als selbstverständlich verstehen. Die Irritation entsteht erst durch ihr Fehlen.
In Computerspielen sind wir es gewohnt, auf unterschiedliche Weise mit der Umwelt interagieren zu können, Dinge aufzunehmen, zu verändern oder auch abzulegen. Ebenso erwarten wir auch, dass Spiele uns unsere Handlungsmöglichkeiten vermitteln (z.B. über Tutorials), wie auch das Ziel bzw. die Motivation dieses Handelns im Computerspiel. Erst wenn diese Konventionen gebrochen werden, fragen wir uns, ob wir es überhaupt noch mit einem Computerspiel zu tun haben. 1
Die Frage kann mit einem klaren „Ja!“ beantwortet werden, denn statt als Differenzkategorien verwendet zu werden, eröffnen diese Brüche mit der Konvention eher ein erweitertes Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten für Computerspiele. Gerade Dan Pinchbecks Dear Esther (2012) zeigt in welcher Weise das reduzierte Interaktionsinventar eingesetzt werden kann, um bestimmte Effekte zu erzeugen. Damit ist es aber kein Einzelfall auch American McGees Alice: Madness Returns (2012) verwendet die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten, um der Spielerin einen bestimmten Eindruck zu vermitteln.

Machtlosigkeit in Alice: Madness Returns

In Alice: Madness Returns wechseln zwei Fiktionsebenen miteinander. In der einen befindet sich Alice im viktorianischen London. Durch nicht näher bestimmte „Anfälle“ innerhalb dieser als real markierten Ebene verschlägt es das aus den Erzählungen von Lewis Carroll bekannte Mädchen immer wieder auf eine zweite Ebene – die des Wunderlands. Neben dem Orts- oder Ebenenwechsel an sich verändern sich auch jeweils Alice’ Aussehen, ihre Bewegungen, aber auch ihre Handlungsmöglichkeiten und damit die Handlungsmöglichkeiten des Spielers.
Im Gegensatz zum ersten Teil von American McGees Alice bewegt sich die Heldin sehr viel souveräner durch das Land der Wunder. Beinahe schwerelos schwebt sie durch die Lüfte, erreicht erhöhte Punkte, indem sie sich in die Luft schraubt, oder weicht mit graziler Leichtigkeit gegnerischen Attacken aus. Es ist – im Gegensatz zum Vorgänger – kein Anstrengungsstöhnen mehr zu hören, wenn sie springt oder sich mühsam an Vorsprüngen nach oben zieht. Alice stellt sich ihren Feinden und setzt sie innerhalb weniger Augenblicke außer Gefecht – wie furchtbar ihre Gegner auch wirken mögen.
Diese Souveränität hat sich das Mädchen teuer erkämpfen müssen. Nach dem Tod ihrer Eltern fiel Alice in einen Schockzustand, der sie für viele Jahre lähmte. Erst als sie sich ihren Problemen und damit ihrer Krankheit, in Form des Bösen im Wunderland, 2 stellte und diese besiegte, wurde sie wieder Herrin über ihr Leben in der Realität und konnte die Rutledge Nervenheilanstalt verlassen.
Bezeichnend ist allerdings, dass Alice in ihrer Realität nicht annähernd so souverän auftritt wie im Wunderland. Der Spieler hat keine Möglichkeit, Alice springen oder klettern zu lassen, wodurch sie den gesellschaftlich vorgezeichneten Rahmen (hier in Form von kleinen und großen Hindernissen wie zu einer Absperrung nebeneinander gestellte Kisten oder Personen, die Wege versperren) unterworfen bleibt. Die Protagonistin kann mit nur wenigen Personen und Gegenständen interagieren – und dies auch nur, indem sie schnippische Bemerkungen macht oder geistreiche Kommentare abgibt. Sie verändert jedoch nichts, das Gefühl, etwas zu bewirken, bleibt aus.
Im Wunderland kann sie sich hingegen gegen viele Gefahren zur Wehr setzen, jedoch den beständigen Zerfall, der die phantastische Welt heimsucht, nicht aufhalten. In der realen Welt ist sie den Menschen ausgeliefert, die sie während der Zeit ihrer Hilflosigkeit ausgebeutet haben und weiter ausbeuten wollen: Beispielsweise scheint der Anwalt der Familie, Wilton J. Radcliff, Alice’ Erbe erst verwaltet und dann aber veruntreut zu haben. Die perfideste soziale Ausbeutung, mit der das Mädchen konfrontiert wird, droht ihr jedoch von Seiten ihres Therapeuten, Dr. Angus Bamby: Dieser versucht die junge Frau zu brechen, mit dem Ziel sie zur Prostitution zu zwingen. Die gesellschaftliche Ausbeutung von Alice, die an Marquis de Sades Roman Justine erinnert, ist bedingt durch ihre Hilflosigkeit im Kontext des Todes ihrer Eltern, ihrer psychischen Krankheit und ihres Status’ als alleinstehende Frau im viktorianischen England. Diese Hilflosigkeit und Machtlosigkeit korrespondiert dabei mit der Handlungsunfähigkeit des Spielers bzw. des Avatars.
Dr. Bamby greift durch seine Manipulationsversuche die Integrität des Wunderlands als Manifestation von Alice Psyche und ihre Souveränität darin an. Am Ende gelingt es Alice nur durch einen Ebenenbruch, sich gegen diese Manipulation zur Wehr zu setzen. Ihre Hilflosigkeit in der Realität weicht der Stärke, die sie im Wunderland besitzt; Alice’ Selbstwahrnehmung als starke Persönlichkeit wird dem Spieler dadurch vermittelt, dass Alice in der Realität plötzlich die Kleider trägt, die sie sonst nur im Wunderland trägt und der Spieler die Möglichkeit bekommt, mit der Umwelt zu interagieren, indem er den Psychiater vor einen fahrenden Zug stoßen kann. Alice bleibt zurück, ohne im Weiteren noch eine Unterscheidung treffen zu können zwischen dem Wunderland und der Realität, beide Ebenen verschmelzen, wenn sie im Anschluss dieser Tat durch die Straßen eines viktorianischen Londons geht in dem riesige Pilze und Bäume aus dem Boden ragen und überdimensioniertes Spielzeug herumliegt.

Haltlosigkeit in Dear Esther

Im Gegensatz zu Alice: Madness Returns gibt es in Dear Esther keine Differenzebene. Vielmehr bricht dieses Computerspiel mit anderen auf der Source-Engine basierenden Vertretern dieses Mediums.
Den Blick auf den Horizont gerichtet sieht der Rezipient, eine von Wolken bedeckte Sonne, deren Licht auf die neblige Küste einer Insel scheint, ein blinkendes rotes Licht in der Ferne und er hört das Rauschen der Wellen. Dazu liest eine männliche Stimme die paar Zeilen eines Briefes:

Dear Esther, the morning after I was washed ashore, salt in my ears, sand in my mouth and the waves always at my ankles, I felt as though everything had conspired to this one last shipwreck. I remembered nothing but water, stones in my belly and my shoes threatening to drag me under to where only the most listless of creatures swim. 3

Das ist alles, was die Rezipientin zu Anfang des Spieles an Informationen erhält. Man wartet, ob noch etwas passiert, wird ungeduldig und bemerkt, dass es die Möglichkeit gibt, sich zu bewegen. Die Bewegungen sind sehr langsam und bis darauf, dass man durch einen Rechtsklick den Blick fokussieren kann, hat man keinerlei Optionen mit Elementen des Bildraumes zu interagieren. Die Besonderheit an dieser Szene ist, dass es kein Intro gibt, das darauf hinweist, was zu tun ist, wo das Ziel liegt. Zudem kann die Spielerin wie an einigen Stellen in Alice: Madness Returns nicht springen, nicht kämpfen, nichts aufnehmen oder beeinflussen. So ergibt sich aus den ersten Minuten von Dear Esther zwar ebenfalls der Eindruck einer gewissen Machtlosigkeit gegenüber der Spielewelt (Wie könnte man sich wehren, sollte der Avatar angegriffen werden?), jedoch wird diese nie so prominent thematisiert wie in Alice: Madness Returns. Ohne den Kontrast der zwei Fiktionsebenen und konkrete Bedrohungen wendet sich die Aufmerksamkeit des Spielers anderen Fragen zu:
„Was ist mein Ziel? Was soll ich tun? Was mache ich hier? Wer bin ich? In welcher Weise stehen die Briefzeilen zu dem Ort in Beziehung, an dem ich mich befinde?“ Kein Tutorial weist die Spielerin auf die unterschiedlichen Steuerungs- und Handlungsmöglichkeiten des Avatars hin. Es wird kein Knoten geschürzt, der nach Auflösung verlangt. Oder zumindest passiert das nicht so offensichtlich wie in anderen Computerspielen, die beispielsweise in Intros die Handlungsmotivation der Figuren und damit oftmals gleichzeitig das Spielziel vermitteln. Die Orientierungslosigkeit provoziert förmlich eine Erkundung der Umgebung – ist „Erkunden“ im Sinne von Bewegen doch die einzige dem Spieler mögliche Aktion. Doch die zusätzlichen (audiovisuellen und erzählten) Informationen werfen eher noch mehr Fragen auf als sie beantworten. In Dear Esther gibt es nur einen Weg, dem man folgen kann und doch ist es möglich, sich zu verlaufen.
Der Bildraum erweckt durch eine perspektivische Krümmung an den Rändern des Sichtbereichs den Eindruck, der Avatar stecke in einer Kugel. Diese anfangs nur unbewusst wahrgenommene Darstellung und die zum Teil unübersichtliche Levelgestaltung führen an manchen Stellen dazu, dass man, ohne es zu merken, im Kreis geht. Dieser Verlust der Orientierung korrespondiert mit dem Verschwinden des sonst ständig als Orientierungspunkt sichtbaren Sendeturms. Wiederholte Male führt der Weg in eine andere Richtung, als in die des Turms, oder aber der freie Blick auf diese exponierte Stelle wird durch Gebirge verdeckt. Durch die Langsamkeit der performierten Bewegungen wird jede Sackgasse oder jeder Umweg deutlich spürbar und verstärkt das Gefühl der fehlenden Orientierung.
Dear Esther fasziniert. Doch Dear Esther fasziniert nicht durch die Neuartigkeit der Handlungsoptionen. Es fasziniert gerade durch die Handlungsunfähigkeit des Avatars und die starke Einschränkung der Handlungen im Kontext eines der dargebotenen Informationen. Die Herausforderung besteht eben nicht (wie sonst in Computerspielen) darin, immer effizienter mit den vorhandenen Steuerungsoptionen umzugehen, sondern im Verstehen: Es geht darum, für sich selbst die Fragen zu beantworten, die sich unweigerlich einstellen, wenn man Dear Esther spielt. „Wo bin ich? Warum bin ich hier? Was ist mit Esther passiert? Wie stehen die genannten Personen in Beziehung zueinander? Was haben die vielen Zeichen auf der Insel zu bedeuten? usw.“

Fehlen als Eindruck

Beide Beispiele zeigen, dass die jeweilige Beschaffenheit der Herausforderungsstruktur im Sinne eines reduzierten Inventars an Handlungsoptionen ein bedeutsamer Teil der formalen Gestaltung von Computerspielen sein kann. Das offensichtliche Fehlen von Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten kann aber nur entstehen, wenn man erwartet, eben gerade diese zu besitzen – also durch eine bestimmte Erwartungshaltung, die nicht erfüllt wird, wie in Dear Esther. Oder aber das Computerspiel bietet zwei sich stark unterscheidende Gestaltungen an, wie beispielsweise den spürbaren Unterschied zwischen Souveränität und Ohnmacht in Alice: Madness Returns, der durch die Differenz zwischen weitem und eingeschränktem Handlungsinventar erst entsteht.

  1. Beispielsweise tun das Kogel, Dennis: „Dear Esther“ - ein Experiment aus der Shooter-Perspektive. In: Zeit online. URL: <www.zeit.de/digital/games/2012-02/dear-esther-rezension/komplettansicht> und Walbrühl, Dirk: Narration auf einer einsamen Insel. In: Kritische Ausgabe. URL <www.kritische-ausgabe.de/artikel/narration-auf-einer-einsamen-insel>. Zur Konstruktion des Gegenstands durch die Beobachtung siehe auch Marcel Schellong: Am Ende des Computerspiels - die Literatur?[]
  2. Schöffmann, Andreas: Das Böse in Alice. In: PAIDIA - Zeitschrift für Computerspielforschung. 12/2011. URL: <https://www.paidia.de/?p=197>[]
  3. Dies ist eine von vielen Textstellen, die das Spiel einleiten können. Dear Esther: Der Anfang. URL: <;http://www.youtube.com/watch?v=8xU1tb79Eu8>; 1:15-1:40 (zuletzt abgerufen am 05.10.12).[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Schöffmann, Andreas: "Dear Alice, ...". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 31.10.2012, https://paidia.de/dear-alice/. [29.03.2024 - 13:27]

Autor*innen:

Andreas Schöffmann

Andreas Schöffmann arbeitet und promoviert an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach einem Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien mit der Fächerkombination Deutsch, Geschichte, Philosophie/Ethik, Medienpädagogik sowie des Magister Artiums in Neuerer Deutschen Literatur befasst er sich mit der Frage nach einem kompetenten Umgang mit Computerspielen als Teil der Werteerziehung. Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage der Forschungsstelle Werteerziehung und Lehrerbildung: http://www.wul.germanistik.uni-muenchen.de/personen/mitarbeiter/schoeffmann_andreas/index.html