Let’s Play ‚The Revenant‘: Ludifizierte Raumerschließung im Film als Spiegel einer digitalen Gesellschaft

13. Dezember 2019

Manipulierbare Welten

Zwischen Computerspiel und Film, den einflussreichsten audiovisuellen Darstellungs- und Erzählweisen unserer Zeit, bestehen auf den ersten Blick unüberbrückbare Differenzen. Produktion und Rezeption sind beim Film bereits aufgrund der Technik kategorisch getrennt: Dem Industriezeitalter entspringend, wird er in einem festgelegten Setting in vorher festgelegter Form betrachtet. Als Vertreter einer tertiären audiovisuellen Medialität1 trifft eine vorgefertigte Bildwelt auf ein passives Publikum, das diese in Fremdzeit konsumiert. Jene Trennung heben Computerspiele als quartäres audiovisuelles Medium auf. Sie setzen anstelle nicht agierender Rezipient*innen mindestens eine aktiv partizipierende teilnehmende Person voraus, die sich mithilfe eines elektronischen Gerätes in einer fremd- oder echtzeitgenerierten Spielwelt wiederfinden und Einfluss auf diese nehmen kann.2 Der „involvierende, handelnde (Mit-)Spieler“3 steht damit für eine neue Ästhetik, deren Besonderheit „nicht allein in der Interaktivität [liegt], da es diese ja bereits auch zwischen spielenden oder kommunizierenden Menschen gibt, sondern sie liegt in der Manipulationsmöglichkeit des interaktiven Bildes selbst.“4

Bestimmt man die Manipulationsmöglichkeit als definierendes Merkmal für quartäre Audiovisualität, lässt sich mit dem Wandel vom Analogen zum Digitalen ein Übergang des tertiären Mediums Film zur quartären Medialität verzeichnen. Denn als Software kreiert, teilt der Film mit dem Computerspiel dieselbe Technologie, die lediglich anders gebraucht wird, und öffnet sich somit der Möglichkeit durch ‚User‘ manipuliert zu werden. Diese Einflussnahme bleibt letztendlich jedoch begrenzt. Lassen sich bei Computerspielen in Form von (Fan-)modi-fikationen ganze Spielwelten und -prinzipien austauschen und ersetzen, beschränken sich Film-‚Modifikationen‘ meist auf die narrative Ebene oder digitale Effekte. 5 Zudem ist beim Film die Manipulation nicht schon bei der Erstellung des Werkes eingeplant und berücksichtigt, Computerspiele wiederum zeichnen sich durch eine grundsätzlich erwünschte Manipulierbarkeit aus. Diese kann, wie beschrieben, den Spielraum und dessen Regeln abweichend von den Herstellervorgaben transformieren, ist aber bereits im eigentlichen Spielprinzip eingeschrieben und das Medium definierend.

Was dem Film bleibt, ist die Erfahrung einer manipulierbaren Welt zu simulieren – durch eine Sicht auf diese, die der Sicht einer*s Computerspielenden auf den Spielraum entspricht. In den Dialog- und Actionszenen des komplett digital gedrehten The Revenant (Alejandro González Iñárritu, 2015) lässt sich eine solche, das Spielerlebnis reflektierende Ästhetik nachweisen, die auch die dramaturgische und inhaltliche Ebene prägt. Schon der Name des Films bezeichnet nicht ein Individuum, sondern eine Rolle, die es wie in einem (Rollen-)Spiel einzunehmen gilt und die durch die Handlungen des Hauptcharakters gefüllt wird. Die filmische Annäherung an das Medium Computerspiel findet in The Revenant einen markanten Höhepunkt und ihr Pendant bei den Produkten des Videospielentwicklers Telltale Games, deren Fokus filmnah auf dem Erzählen von Geschichten liegt. Solch ein intermedialer Austausch ist kennzeichnend für die Beziehung zwischen Spielfilm und dem historisch jüngeren Computerspiel.

Intermediale Phänomene

Spielfilmeinflüsse auf Computerspiele

Anschließend an die Virtualisierung und Algorithmisierung analoger Spiele in den ersten Jahrzehnten ihrer Entstehungsgeschichte, remedialisierten Computerspiele ab den 1970er bis in die Mitte der 1990er Jahre primär vertraute Strukturen aus dem Sport, der Literatur, dem Fernsehen und eben dem Kino, oft in Form von Softwareumsetzungen erfolgreicher Blockbuster. Die schwankende Qualität dieser Umsetzungen zeigt sich an den ‚Versoftungen‘ zweier Spielberg-Filme: Während E.T. – The Extraterrestrial (LucasArts, 1983) als eines der misslungensten Computerspiele aller Zeiten gilt, zählt Indiana Jones and the Last Crusade (LucasArts, 1989) bis heute zu den besten Vertretern des Adventure-Genres.6 Dominierten zunächst mit Arcade-Konvertierungen, Rollen- und Strategiespielen Spielprinzipien, die auf nicht elektronischen Spielformen basierten, etablierte sich erst mit dem Erscheinen von Wolfenstein (id Software, 1992) und vor allem Doom (id Software, 1993) mit dem First-Person-Shooter ein dem Medium eigenes und ein das Medium definierendes Genre.7 Das primäre Merkmal der im Deutschen als Egoshooter bezeichneten Computerspielform ist der zentralperspektivische, dreidimensionale Bildaufbau, auf dessen Konstruktion das Spielprinzip direkt beruht und auf das dieses angewiesen ist – um zu spielen, muss man das Bild, das man sieht, benutzen (heißt: manipulieren):

Im Egoshooter ist dieser Bezug, der in anderen Spielen meist nur impliziert ist, evident. […] Der Benutzer sieht, dass er sieht. Es liegt hier nicht mehr eine Interaktion auf Basis einer symbolischen Handlung oder der Handlung mit Symbolen […] vor, sondern eine Handlung mit den Bildobjekten als solche. Sie haben keine Stellvertreterfunktion mehr, sondern sind sie selbst.8

Eine sich immer schneller entwickelnde Hardware-Technik erlaubte es zunehmend, fotorealistisch anmutende 3D-Bildwelten in Echtzeit zu generieren. Konnte sich so der Egoshooter ästhetisch entfalten und andere Computerspielkonzepte mit ihm, führte das neue CD-Rom-Format Anfang der 1990er Jahre zeitweilig zu einer Entfernung von Spielmechaniken, die vor allem auf direkter Manipulierbarkeit beruhen. Im Vergleich zu den davor üblichen Disketten stand plötzlich ein enorm hoher Speicherplatz zur Verfügung, der mit digitalisierten Filmsequenzen und/oder vorgerenderten Sequenzen gefüllt wurde, deren Abfolge durch den Nutzer beeinflusst werden konnte; teilweise war die Manipulation von in das Material eingefügten Objekten möglich. Die full motion video games (kurz FMV Games), auch als ‚interaktive‘ Filme bezeichnet, wurden dem namensgebenden Interaktivitätsanspruch jedoch nicht annähernd gerecht – die Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Narrative und Spielwelt blieben marginal. Stellten sie aus spielkonzeptioneller Perspektive somit einen Rückschritt dar, waren sie finanziell nichtsdestotrotz oft erfolgreich; so trugen die hohen Verkaufszahlen von Rebel Assault (LucasArts, 1993) wohl mit zur Verbreitung der CD-ROM-Laufwerke bei.

Die von den manipulierbaren Bildwelten anderer Computerspiele entfremdeten interaktiven Filme setzten sich nicht durch, ihnen eigene Muster haben sich aber bis heute erhalten. Zwischensequenzen, die ohne Eingriffsmöglichkeiten durch die Spieler*innen die Handlung vorantreiben, finden sich immer noch häufig, wobei es die stetig potenter werdenden Game-Engines erlauben, auf Spielfilm- und Rendersequenzen zu verzichten. So können narrativ bedeutsame Abschnitte zunehmend direkter in Spielkonzepte eingebunden werden, wodurch die Spieler*innen nicht in eine vollständig passive Rolle gedrängt werden müssen. Werden ihnen lediglich einige der sonst möglichen Interaktionen mit der Spielwelt genommen, verbleiben ihnen die Bewegungssteuerung und/oder die Änderung des Blickwinkels. Sie können somit ihre Sicht auf das ihnen dargebotene narrative Geschehen beeinflussen und die Wahrnehmung des Spielraums mehr oder weniger frei bestimmen.9 Es wird also im Vergleich zu den nicht integrierten Zwischensequenzen nicht nur ein ästhetischer Bruch verhindert, sondern außerdem der Manipulationsgrad gesteigert. Die Ingame-Sequenzen kann man in Abgrenzung von den Zwischensequenzen, aufgrund ihres narrativen Schwerpunktes, als ‚Handlungssequenzen‘ bezeichnen.

Ist es den Spieler*innen in den Handlungssequenzen zwar oftmals möglich, sich (eingeschränkt) zu bewegen, kann ihnen umgekehrt die Kontrolle über ihre Bewegung sowie die Wahl des Blickwinkels im Spielraum entzogen werden. Sie müssen dann an vorgegebenen Stellen bestimmte Aktionen über Tasteneingabe durchführen, in der Regel in einer begrenzten Zeitspanne; diese Quicktime-Events dürften dem anhaltenden Erfolg von Spielekonsolen und ihrer Controller-basierenden Steuerung zu verdanken sein.

Handlungssequenzen und Quicktime-Events sind grundlegende Spielmechaniken der Software-Produkte von Telltale Games. Das 2004 gegründete und 2018 geschlossene amerikanische Unternehmen hatte sich auf trans- und intramediale Adaptionen spezialisiert und veröffentlichte im Episodenformat Umsetzungen bekannter Filme (bspw. Jurassic Park: The Game; 4 Episoden, 2011), Comics (bspw. The Walking Dead: Season One; 5 Episoden, 2012), Serien (bspw. Game of Thrones: Season One; 6 Episoden, 2014-15) und Computerspiele (bspw. Tales from the Borderlands; 5 Episoden, 2014-15). Allen Adaptionen gemein ist die Bedeutsamkeit der Narrative, wie sie mit dem Spielkonzept verwoben wird. Das ist so typisch für die Telltale-Games, dass diese ein Subgenre der Adventure-Spiele darstellen: Aus der Third-Person-Perspektive steuert die Spieler*innen einen Protagonisten oder eine Protagonistin der jeweiligen Handlung, die vollständig in der Game-Engine10 stattfindet. In Rätsel-Passagen kann die Spielwelt zu einem gewissen Teil frei erkundet werden, dabei muss man, nach klassischem Point-and-Click-System, Gegenstände finden und mit anderen kombinieren. In Handlungssequenzen können die Spieler*innen fast immer die Kamera bewegen und bestimmte Dialoge durch die Wahl einer Antwort beeinflussen, zudem muss in entscheidenden Situationen eine Taste betätigt werden. In beiden Fällen darf ein Zeitlimit nicht überschritten werden, die Quicktime-Events verlangen von den Spieler*innen also eine schnelle Reaktion.

Computerspieleinflüsse auf Spielfilme

Im Zuge der Ausbildung einer eigenständigen Ästhetik bei Computerspielen, die auch Merkmale des Films aufweist und diese im Laufe der Historie immer erfolgreicher medial zu konvertieren wusste, lässt sich parallel ab den 1990er Jahren mit der Digitalisierung des Films eine zunehmende „Ludifizierung der Leinwand“11 verzeichnen.  Damit sind nicht zwangsläufig die zahlreichen – oft konzeptionell misslungenen – Umsetzungen bekannter Computerspiele gemeint, auch nicht eine direkte Übernahme von Spielelementen.12 Wird der Begriff ‚Videogame-Ästhetik‘ filmwissenschaftlich oft auch auf Filme dieser Kategorien angewendet,13 handelt es sich bei der Ludifizierung vielmehr um eine Aufwertung des filmischen Raumes gegenüber der Montage und die Übernahme narrativer Muster, bis hin zum Einbau der für Spielerlebnisse wesentlichen Erfahrung des Scheiterns und der Wiederholung.14 Verzeichnen ließ sich dies zunächst bei Filmen mit fiktiven Settings – Zukunftsvisionen, nicht unbedingt akkuraten Historienabenteuern und Fantasyfilmen, in neuster Zeit bei den zahlreichen Comic-Adaptionen.15 So finden sich bei The Matrix (Lana und Andy Wachowski, 1999) an Beat-’em-ups angelehnte Kampfszenen, vorausgehend werden die Kämpfenden mit einer 360°-Kameraumfahrt vorgestellt. Bei Gladiator (Ridley Scott, 2000) erinnern die von Arena zu Arena besser ausgerüsteten und aufwändiger inszenierten Gladiatoren an eine Levelstruktur mit immer herausforderenden Gegnern. Bei Peter Jacksons Mittelerde-Filmen (bspw. The Hobbit - The Battle of the Five Armies, 2014) finden sich Aufstellungen bei Schlachten wie bei MMORPGS sowie Actionszenen mit Jump-’n’-Run-Einlagen. Das Finale der Avengers (Joss Whedon, 2012) ist wie ein Arcade-Game konzipiert, mit unzähligen, ständig neu auftauchenden feindlichen Alienschiffen. Eindringlich sind ludische Elemente in die Handlung von Edge of Tomorrow (Doug Liman, 2014) eingebunden: Der Protagonist William Cage (Tom Cruise) verliert mehrmals sein Leben, bis er den Ablauf einer sich immer gleich wiederholenden Gefahrensituation verinnerlicht hat, was ihm erlaubt sie zu meistern und sich der nächsten Herausforderung (dem nächsten Level) zu stellen.16 Gleich einem Sidescroller von links nach rechts bewegen wir uns mit dem Aufständischen Curtis (Chris Evans) in Snowpiercer (Bong Joon-ho, 2014) von Waggon zu Waggon im Inneren eines fahrenden Zuges, jeder Wagen ist dabei ein neuer Möglichkeitsraum mit eigenem Design und eigenen Regeln.

Mit The Revenant ist die Ludifizierung nun in der Konstruktion einer artifiziellen Filmwelt angekommen, die ein hohes Maß an Realismus und Authentizität für sich beansprucht. Einen Roman von Michael Punke (The Revenant: A Novel of Revenge, 2002) adaptierend, schildert der Film den Überlebenskampf des US-amerikanischen Trappers Hugh Glass zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Während einer Expedition in den Rocky Mountains von einem Grizzlybären schwer verletzt, beginnt Glass eine mehrwöchige Wanderung durch die schneebedeckte Wildnis, angetrieben vom Wunsch auf Rache: Seine Mitstreiter hatten ihn zurückgelassen, einer von ihnen seinen Sohn ermordet.

Iñárritu entwirft für den klassischen Revenge-Plot eine Welt, in der die Natur ebenso kalt, chaotisch und brutal ist wie die Handlungsweisen und emotionalen Zustände der Protagonisten. Sein Realitätsanspruch führte zu extremen Drehbedingungen – bei Minusgraden und natürlichem Licht wurden die Szenen über elf Monate hinweg in chronologischer Abfolge aufgenommen. Mit Emmanuel Lubezki engagierte Iñárritu den Kameramann seines Regiekollegen und Freundes Alfonso Cuarón, bereits bei Birdman (Alejandro González Iñárritu, 2014) hatten sie zusammen gearbeitet. Auch Lubezkis Arbeiten für Cuarón weisen ludische Elemente auf: Children of Men (Alfonso Cuarón, 2006) erinnert mit seinen langen, durch ein digitales Blending-Verfahren von sichtbaren Schnitten befreiten, Passagen an Handlungssequenzen, die fließend in gescriptete Actionsequenzen übergehen; während diesen wird sich um ‚Gegner‘ herumgeschlichen wie in Stealth-Shootern und hinter Objekten Schutz gesucht wie in Deckungs-Shootern. Die Steadycam nimmt die Rolle eines in das Geschehen involvierten Charakters ein, wobei vereinzelt Blutspritzer die Linse verunreinigen, ähnlich einem HUD-Display. Die zwölfminütige, schnittfreie Eröffnungssequenz von Gravity (Alfonso Cuarón, 2013) lotet bereits aus, was sich bei der Präsentation von The Revenant durchgehend manifestieren wird – der Weltraum wird als ‚Raumwelt‘ inszeniert, eine virtuelle Welt ohne Beschränkungen, die sich von einem beliebigen Standpunkt aus betrachten lässt.17 Das ‚außer-irdische‘ Konzept auf unsere Umwelt transferierend, gestalten Lubezki und Iñárritu mit The Revenant eine „360-Degree Emotional Experience“18, die immersiv den Betrachter am Geschehen teilhaben lässt und dazu filmische Raumerfahrung atmosphärisch auflädt. Die Durchquerung des Raumes, also die Bewegung in ihm, erfährt eine Aufwertung und nähert sich dem „Gesamtraum“ 19 eines Computerspiels an, der sich aus Entscheidungen und Bewegungen ergibt.

Raumerschließung in The Revenant

Der ‚filmische Raum‘ ist ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Phänomene, unter anderem für die Inszenierung einer Szene durch die Kamera innerhalb einer Einstellung, aber auch der Raum, der durch die Montage entsteht, der Handlungsraum oder der fiktive Raum, der durch die erlebenden Zuschauer*innen erst konstituiert wird, indem sie die dargestellten Raum-Ausschnitte zu einem Weltentwurf verknüpft. Unabdingbar für die Konstruktion eines filmischen Raumes ist das durch eine Kamera festgehaltene Bildmaterial. Kunstvoll arrangiert, wird das „technisch produzierte Filmbild […] nicht als Bild wahrgenommen, sondern als Blick auf ein hinter dem Rahmen des Bildes liegendes Wirkliches. Diese Suggestion ist wesentlich über die zentralperspektivische Abbildung vermittelt, in der ein quasi körperlicher Standort der Wahrnehmung enthalten ist, den der Filmbetrachter identifikatorisch einnehmen kann.“20

Der eingenommene Standort ist im klassischen Film in der Regel an eine*n Protagonist*in gebunden oder der des passiven Beobachters, eines Voyeurs, der das Geschehen mehr oder weniger (je nach Kameraeinstellung) distanziert betrachtet. Einstellungswechsel steuern dabei die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen, die Montage bestimmt den zeitlichen Rhythmus. Findet über den Blick der Kamera eine Identifikation mit einem unwirklichen Körper statt, wird diese Identifikationsmöglichkeit mit der Einführung des digital erzeugten Bildes potentiell verhindert. Computergenerierte Bilder werden ohne eine reale Kamera modelliert, wobei der zentral ausgerichtete Blick zwar erhalten bleibt, der virtuelle Raum sich jedoch ohne Bindung an physikalische Gesetzte dynamisch erschließen lässt. Die entmaterialisierte Kamera führt zu einer entfesselten Bewegung mit beliebigem Blickpunkt auf eine beliebig formbare Umgebung: „Durch den Wechsel der Perspektiven und Aufnahmedistanzen wird die natürliche Raumwahrnehmung aufgelöst in eine tendenziell unbegrenzte Vielansichtigkeit.“21 Die Trennung von Körper und Auge kann bei der Filmwahrnehmung irritierend wirken und gar als „schwindelerregend“22 wahrgenommen werden; schwächt sich dieser Effekt durch Gewöhnung im Laufe der Zeit ab, bleibt der Identifikations- und damit der Immersionsgrad weiterhin gering, da die fiktive Übernahme eines definierten Körpers verunmöglicht und der Filmraum als konstruiert erkannt wird.23

Der filmische Avatar

In The Revenant finden wir weder eine virtuelle Kamera, die nicht an die Gesetze der (Film-)Welt gebunden ist, noch einen Betrachterstandpunkt, einen Point of View, nach filmklassischen Gesichtspunkten. Vielmehr nutzt Iñárritu die Möglichkeit, digital gefilmtes Material im Nachhinein zu bearbeiten, um mit digitalen Kameras apparaturbedingt eigentlich unmögliche Kamerafahrten zu gestalten, die aber an die physikalischen Bedingungen unserer Welt geknüpft und somit identifikationsstiftend sind. In langen, schnittbefreiten Plansequenzen scheint die Kamera an den Blick einer unwirklich agierenden Person gekoppelt zu sein, die zwar mitten im Geschehen ist und dieses miterlebt, jedoch gleichzeitig nicht zwangsläufig auf dieses reagiert wie ein vollständig involvierter Charakter, also nicht, als wäre sie direkt betroffen vom stattfindenden Plot der Szene. Während Dialogen folgt die Kamera den Protagonisten, verliert sie aber auch aus den Augen, umkreist sie, weidet sich an der Schönheit der Natur, scheint ab und zu ohne erkennbare narrative Korrelation die Umgebung aus wechselnden Perspektiven zu erkunden – die Filmwelt wirkt, im Rahmen ihrer Gesetzmäßigkeiten, auf ästhetischer Ebene nicht stringent durchkomponiert und zwingend handlungslogisch konstruiert, sondern wird zum Entdeckungsraum. Der Kamerablick scheint entkoppelt vom inszenierenden Blick des Regisseurs, der einen intradiegetischen Charakter simulieren möchte, für den die ihn umgebende Welt eine real existierende ist, und verbunden mit einem Subjekt, das zwar diegetisch eingebunden ist, den Blickwinkel auf die Welt jedoch (mehr oder weniger) frei wählt und sich deren Künstlichkeit bewusst ist. Eher noch: Der Kamerablick ist verbunden mit einem Subjekt, das sich bewusst darüber ist, dass die es umgebende Welt nur für es und für einen bestimmten Zweck (Vorantreiben der Handlung, Erzeugung und Darstellung von Emotionen und Spannung) erschaffen wurde und dementsprechend gestaltet ist. Der subjektive, autonome Blick und seine erschließende Bewegung im Raum werden zur eigenen Handlung.24

Setzt man die Blickfreiheit mit einer (begrenzten) Handlungsfreiheit gleich, kann man auch von einer Entscheidungsfreiheit (die Wahl des Blicks und die Bewegung betreffend) sprechen; sich über Bewegung und Entscheidung definierend, korreliert die Raumgestaltung von The Revenant mit dem Gesamtraum eines Computerspiels. (Natürlich sind die Entscheidungen bereits getroffen und filmisch festgehalten, darauf wird noch eingegangen werden.) In diesem Gesamtraum sind Computerspieler*innen als Avatar repräsentiert, der den Gesetzen der virtuellen Welt unterworfen ist. „Im Spiel ist [er] sowohl Subjekt, denn er trifft Entscheidungen und führt Handlungen aus, als auch Objekt, denn die Regeln oder die anderen Begrenzungen, wie die Fiktion, determinieren die möglichen Handlungen, d. h. die Gruppe von Handlungen, die ausgeführt werden dürfen.“25

In den Dialogsequenzen von The Revenant begegnet uns ein Avatar, der aufgrund der subjektiven First-Person-Perspektive nicht abgebildet ist; er steht für eine*m fiktive*n Computerspieler*in, die*der eine Handlungssequenz erspielt, während der sie*er nur eingeschränkt interagieren kann und der fiktiven Narration innerhalb eines festgelegten Areals folgen muss, allerdings die Kontrolle über Bewegung und Betrachtungswinkel behält. Sie*er ist Handelnde*r und gleichzeitig in der Position der*des Sehenden, wodurch sie*er eine Handlungs- und Beobachtungsperspektive einnimmt.26 Die*der fiktive Computerspieler*in erkundet den fiktiven Raum, eine ludische, „regelbestimmte Welt für mögliches Handeln“,27 und dessen bereitgestellte Angebote und nimmt sich in dieser Rolle wahr. Durch die geteilte Position findet sich in der Welt von The Revenant also kein kinoübliches Subjekt, das sich als Zentrum und Urheber der Diegese begreift, sondern eine dem Computerspiel entsprechende Auflösung dieser Subjektivität in Gestalt eines Avatars.

Diese Auflösung zeigt sich auch daran, dass die First-Person-Perspektive nahtlos in andere Perspektiven übergeht. Mehrfach folgt die Kamera einem Protagonisten, bewegt sich auf ihn zu, filmt ihn im close-up auf Augenhöhe, verweilt nicht, sondern führt eine Drehung aus, um schließlich über dessen Schulter über einen Gewehrlauf zu blicken, das potentielle Ziel anvisierend. Der Wechsel von follow-cam zu ‚shoulder-cam‘ ist typisch für viele Third-Person-Games: Im Unterschied zu First-Person-Games, bei denen „being an avatar means being a camera-body, […] you float around like a Steadycam […]“,28 betrachtet und steuert man seinen Avatar in diesen Computerspielen von außen, während die navigierbare Kamera ihm folgt; über eine Eingabe wechselt man zur Schulterkamera, die einem das Zielen vereinfacht.29 Da die Perspektivwechsel in The Revenant ohne Schnitt geschehen, wirken sie sich nicht negativ auf die Immersion aus. Wir ‚schlüpfen‘ von einem unsichtbaren Avatar in einen sichtbaren und nehmen an Schlüsselstellen seine Sicht auf die Welt ein, wobei die Möglichkeit der Rollenidentifikation unverändert bleibt. Was Klevjer für die Avatardarstellung in Computerspielen nachgewiesen hat, gilt auch hier:

"First-person" and "third-person" […] are different configurations of the same kind of telepresent embodiment. The main difference between the two is that in third-person, the marionette carries the main burden of objective embodiment in game space, not the camera that tags along. […] The unity of camera and marionette is the incarnated body of the player, just like the unity of camera and gun is the body of the player in a First-Person Shooter.30

Die ästhetische Verwandtschaft der Telltale Games

Die Raumerschließung aus wechselnder, primär aber aus der Third-Person-Perspektive, finden wir auch bei den Telltale Games. Wie in The Revenant gibt es in jeder Computerspielreihe oder -serie einen Hauptcharakter, der jedoch nicht alleiniger Avatar ist – die Spieler*innen steuern während des Spielverlaufs gelegentlich auch andere Protagonist*innen. So übernehmen wir in der 5. Episode von The Walking Dead (Staffel 1) die Rolle des Mädchens Clementine, während der Charakter namens Lee, den wir normalerweise verkörpern, verwundet am Boden liegt. Narrativ betrachtet, streuen also mehrere Handlungspositionen um eine primäre Handlungsposition in einer episodischen Erzählstruktur. Die Episoden weisen variierende Handlungsschwerpunkte auf, mit denen auch die Spielmechanik wechselt: Mal dominieren (Deckungs-)Shooter-Elemente (z.B. beim Abwehren eines Angriffs), mal Quicktime-Events (z.B. im Nahkampf), mal das Schleichen (z.B. um ungesehen zu entkommen). Die zur Wahl gestellten Antwortmöglichkeiten in Dialogen (das Spektrum reicht von besonders freundlich/zustimmend/altruistisch über beleidigend/ablehnend/egoistisch bis hin zu simplem Schweigen) und die zu treffenden Entscheidungen (‚Wen lasse ich am Leben?‘, ‚Wer begleitet mich?‘, ‚Wen rette ich zuerst?‘) haben dabei weniger Auswirkungen auf den Plot,31 als man annehmen könnte – er ändert sich nur vermeintlich, da die Spiele indirekt und für den Computerspieler, dem der Vergleich beim einmaligen Durchspielen fehlt, unbemerkt, einem Haupterzählstrang folgen. So kann man in der ersten Episode von The Walking Dead (Staffel 1) einen von zwei Charakteren (Carley oder Doug) retten, für wen man sich auch entscheidet, der zunächst überlebende Charakter stirbt in Episode 3.

Aus einer narrativen Perspektive gibt es also im Vergleich zu anderen Computerspielen, bei denen die Handlungen des Spielers als „narrative performance“32 angesehen werden können und die sich nicht durch die Story, sondern die kausale Verknüpfung der Erzählelemente oder Ereignisse, die im Durchlaufen des Spielraums in Beziehung gebracht werden, auszeichnen,33 relativ wenige Manipulationsmöglichkeiten. Doch:

The choices you make in Telltale games have limited consequences for the plot, it’s true. But they have massive consequences for the characterization and theme, which is something few other games offer. […] By giving players control not over the plot but over the context that plot happens in, the choices become meaningful in the most literal sense—they let you alter the meaning of the story.34

Ob also The Wolf Among Us eine Geschichte ist über Bigby Wolf, einen verbitterten Mann, der aufgrund seiner Vorgeschichte rücksichtslos und gefühlskalt wurde oder eine Geschichte über einen Mann, der einen Neubeginn wagt und sein Verhalten ändert, hängt von den getroffenen Entscheidungen ab, die vielleicht keine narrative, aber eine moralische Bedeutung für die Computerspieler*innen haben. Sie finden sich in einer Rechtfertigungsposition wieder (‚Warum entscheide ich mich für das Leben von X und nicht von Y?‘) und kann sich so stärker mit den Charakteren identifizieren: „Forcing us to focus on why we make characters do things brings us closer to them.“35 Konsequenzen unserer Handlungen für andere und für uns werden erfahrbar, gar spürbar; im Extrem wird dies in The Walking Dead exemplifiziert, wenn Lee, von einem Zombie gebissen, mit einer Säge seinen Unterarm abtrennt und wir jeden Zug, tiefer in den Arm dringend und einen schmerzvollen Schrei evozierend, mit einem Tastendruck veranlassen (Abb. 1).

Abb. 1: Amputation durch Tastendruck

In The Revenant wird die primäre Handlungsposition von Hugh Glass eingenommen, die Handlung selbst weist, wie die Telltale Games, eine episodenhafte Struktur auf, auch die Handlungsschwerpunkte gleichen sich – benennen könnte man beispielsweise ‚Der Indianerangriff‘, ‚Der Bär‘, ‚Pferdeklau‘. Die Mise en Scène remedialisiert innerhalb der ‚Episoden‘ jeweils auch Spielmechaniken (Schießen, Nahkampf, Schleichen) und wird – in Anlehnung an Rauscher – zur Mise en Game.36 So ist der Bärenangriff wie ein simuliertes Quicktime-Event inszeniert, bei dem auf die wahrgenommene Situation im richtigen Moment reagiert werden muss: Hugh Glass erkundet einen Wald mit langsamen Bewegungen, die Kamerasicht folgt seiner Flinte. Er entdeckt zwei Bärenjungen und im gleichen Moment stürmt bereits die Bärenmutter auf ihn zu. Glass wird zu Boden geschleudert, die Bärin attackiert ihn immerwährend mit ihren Krallen, während sie ihn auf den Boden drückt. Die Kamera nähert sich dem Geschehen immer mehr, bis schließlich das Tier ablässt und sich auf ihre Jungen zubewegt. Nun hat Glass kurz Gelegenheit, sich zu seiner verlorenen Flinte zu schleppen und diese zu laden (Abb. 2). Die Bärin kehrt zurück, im Sprung wird sie noch von einer Kugel getroffen. Verwundet wirft sie Glass in die Luft, reißt Fleisch aus seinem Körper und schlitzt seine Kehle auf, bevor sie sich wiederum kurz entfernt. Der letzte Angriff wird mit mehreren Messerstichen erwidert, bis schließlich Glass und Bärin einen Abhang hinunterfallen und liegen bleiben.

Abb. 2: Bärenangriff

Ein fast identisches Muster weist das erste Quicktime-Event in Episode 1 von The Walking Dead (Staffel 1) auf. Nach einem Autounfall befreit sich Lee aus dem umgedreht liegenden Fahrzeug, begegnet im Wald einem Zombie, der sich auf ihn zubewegt. Er weicht zurück bis an das Autowrack, die ‚Kamera‘ nähert sich ihm zunehmend, er tastet sitzend nach Munition für eine Schrotflinte. Sekunden bleiben ihm und damit den Computerspieler*innen, um diese zu laden, schließlich zielt man auf den Zombie und feuert, hoffentlich rechtzeitig, den rettenden Schuss ab (Abb. 3).

Abb. 3: Zombieangriff

Die Mise en Game in Computerspiel und im Film vermittelt durch die (simulierte) Eingriffs- und damit Manipulationsmöglichkeit eine Avatar-Erfahrung, die den fiktiven Charakteren eine unmittelbare Körperlichkeit verleiht. Glass wird sich keinen Arm abtrennen, aber wenn er sich später mit Schießpulver und Feuer die im Kampf mit der Bärenmutter zugezogene Halswunde verödet, ist der auslösende Tastendruck eindringlich vorstellbar (Abb. 4). Avatargleich ist Hugh Glass allein schon deswegen, weil er sich ausschließlich über seine Handlungen definiert. Seine Vorgeschichte kennen wir nur rudimentär, genauso wie seine Beweggründe – Leerstellen, die durch seine Entscheidungen im Laufe der Filmhandlung gefüllt werden.

Abb. 4: Wundverödung durch ‚Tastendruck‘

Aufgezeichnete Spielhandlungen

Bei diesen Entscheidungen sind durch die Figurenzeichnung mehrere Verhaltensweisen vorstellbar und plausibel. Ob der ‚Wiederkehrer‘ von seinem Rachedurst geblendet und enttäuscht von der Menschheit ist, oder ob er noch Mitgefühl zu zeigen imstande ist und dem Töten entsagt, ob er, ganz konkret, beispielsweise eine indigene Frau von ihrem Vergewaltiger befreit oder seinen Erzfeind im finalen Kampf das Leben schenkt – es ist zu jeder im Film gezeigten Handlung eine abweichende denkbar. Ist ein Film eigentlich eine festgehaltene künstlerische Vision, öffnet sich The Revenant mehreren (Spiel-)Varianten und erscheint als eine Aufzeichnung einer von einer*m fiktiven Computerspieler*in gewählten möglichen Handlungsweise – einem unkommentierten Let’s Play.37 Eine andere Art des Durchspielens des Plots, im wörtlichen wie auch im ludischen Sinne, scheint möglich und würde zu einer veränderten, aber schlüssigen Story mit eigener Moral führen.

Der spielende Zuschauer

So ergibt sich auch eine Deutung für das Schlussbild des Films, bei dem sich der Blick des von Leonardo DiCaprio verkörperten Glass direkt in die Kamera richtet. Ist der Kino-Bildraum durch das Verbot an die Schauspieler*innen, in die Kamera zu blicken, vollständig in sich geschlossen,38 findet nun eine Öffnung statt, die bei The Revenant nicht mehr auf ein aus passiv Konsumierenden bestehendes Kollektiv abzielt, sondern auf Individuen, denen eine Bereitschaft zur (inter-)aktiven Partizipation zu eigen ist. Winkler konnte nachweisen, dass Filmbilder intersubjektiv-verbindlich konnotiert sind und einen Prozess der Konventionalisierung durchlaufen: Verschiedene Betrachter*innen verstehen das Abgebildete gleich, weil sie „[…] einen bestimmten Teil ihres Weltwissens teilen und dieses Weltwissen durch ein gemeinsames symbolisches System seine Struktur erhalten hat.“39 Wir können also davon ausgehen, dass ein durch Computerspiele jahrzehntelang geprägtes Publikum eine veränderte Haltung aufweist: „Die Notwendigkeit zur eigenen Entscheidung, wie sie die meisten […] digitalen Spiele erfordern, nehmen Spieler eben nicht als Last wahr, sondern erleben sie lustvoll.“40 In allen Lebensbereichen hebt sich der Widerspruch zwischen Arbeitsethik und Spielethik, den die industrielle Rationalität behauptete, sukzessive auf.41 Filmzuschauer*innen als ‚Spielende‘ wahrzunehmen und anzusprechen, ist für das dem Industriezeitalter entspringenden Kino eine Chance, weiterhin (oder wieder) ein zentrales Medium im digitalen Zeitalter zu sein.

Eine solche Erneuerung geschieht in The Revenant über eine Neudefinition des filmischen Raumes durch das Aufbrechen herkömmlicher Narrations- und Bewegungsmuster. Iñárritu verwirklichte sein Anliegen der „Immersion in die natürlichen Elemente der Welt“42 durch ein Aktivieren von Raum-Empfindungen und Ansprechen von Raum-Bedürfnissen43 wie in gängigen Computerspielszenarien. Erlaubt tertiäre Audiovisualität Immersion in Fotorealistisches und spricht Zuschauer*innen an, die „[…] in Zeiten und an Orte versetzt [werden], in und an denen sie nicht leben (was sie aber vielleicht gerne täten) und in und an denen sie sich mit Wesen identifizieren können, die sie nicht sind (aber vielleicht gerne wären)“44, erlaubt quartäre Audiovisualität Immersion in Hyperrealistisches und ermächtigt Nutzer*innen, diese Zeiten und Orte zu erkunden und zu erfahren. Iñárritu öffnet einen immersiven Rahmen, in dessen Zentrum die Erfahrung des diegetischen Raumes steht, und nähert sich so quartärer Audiovisualität an. Dominiert beim Medium Film normalerweise der Zeitaspekt,45 wird dieser durch das Übergewicht des Raumaspekts abgelöst, der zentral für das Medium Computerspiel, vor allem für Open-World-Spiele ist – die Erkundung des Raumes wird wichtiger als die Fortentwicklung der Narrative.46

In Computerspielen gibt es keinen Schnitt, ein Rhythmus entsteht durch das Wechselspiel von Angeboten, Ereignissen und dem Annehmen dieser durch Spieler*innen. Bei The Revenant fungiert die Kamera als deren Repräsentant, als Avatar, der weitestgehend unabhängig nach reizvollen Aufgaben in der, so Iñárritu, „virtuellen Realität“47 sucht, die einem computer-simulierten Szenario gleicht.48 Hierbei findet sich ein nicht abgebildeter Avatar auf einer ästhetischen Ebene, auf narrativer Ebene wird der Avatar von Hugh Glass ‚verkörpert‘. Der damit einhergehende Perspektivwechsel von First-Person zu Third-Person ist für Computerspieler*innen, aufgrund der durch digitale Spiele veränderten kulturellen Gewohnheiten, nicht befremdlich. Filmhistorisch gescheitert ist der Versuch, aus First-Person-Perspektive ein Geschehen wiederzugeben, bei dem die Zuschauer*innen an ein fiktives Subjekt gekoppelt werden, das Fremdhandlungen durchführt, die von einem Regisseur oder einer Regisseurin durchkomponiert und, eine bestimmte Funktion erfüllend, festgelegt wurden.49 Ebenso wie die „entfesselte“ virtuelle Kamera erzeugte dies eine Störung der Immersion. Im Gegensatz dazu ist es in The Revenant durch das ästhetische Vortäuschen von Manipulation einer virtuellen Welt möglich, den eigenen Körper ohne Abstoßungseffekt in den des Avatars auszulagern und wie Computerspieler*innen halb involviert, halb reflektiert eine ungebrochene Immersion zu erfahren. Die offen angelegten Charaktere, die sich über ihre Entscheidungen definieren, helfen dabei zu akzeptieren, dass wir nur eine von vielen Handlungsvarianten, gleich einem Let’s Play, präsentiert bekommen.

Spannend ist, dass durch die Anlehnung an die Ästhetik von Computerspielen dem Film durch den hohen Identifikations- und Immersionsgrad eine Körperlichkeit zurückgegeben wird, die durch die zwar computerspielartig anmutenden, aber nicht deren Ästhetik so konsequent remedialisierenden Comicverfilmungen genommen wurde – negierten diese schließlich Verletzlichkeit, Sterblichkeit und den endgültigen Tod. Über die Avatarfigur in einer immersiven Welt gelingt es, die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit des menschlichen Körpers ins Kino zurück zu holen und damit das physische Körperkino in Cronenbergscher Tradition. Man hat in The Revenant, genau wie in Telltale Games, eben nur ein Leben und Entscheidungen können somit weitreichende Konsequenzen haben.

Der Blick von Hugh Glass am Ende des Films (Abb. 5) richtet sich nicht auf eine vierte Wand, die eigentlich von der Kamera beziehungsweise dem Kino-Publikum gebildet wird, sondern entspringt einer virtuellen Welt, die keine non-diegetischen Wände kennt, und richtet sich an potentielle Computerspieler*innen, die ein Let’s Play betrachtet haben. Von diesen Betrachter*innen wird eine Antizipation auf einer anderen medialen Ebene erwartet. Sie sollen nicht ein Produkt filmästhetisch rezipieren, passiv und nachträglich, sondern aktiv reflektierend und echtzeitig partizipierend unter game-ästhetischen Gesichtspunkten.

Die Frage, die sich uns mit dem letzten Filmblick stellt, ist also nicht: ‚Was hast du gesehen und wie beurteilst du das?‘, sondern: ‚Wie hättest du gespielt?‘

Abb. 5: Der letzte Blick

Medienverzeichnis

Spiele

Bioware: Mass Effect 1. USA: 2007.

Bioware: Mass Effect 2. USA: 2010.

Bioware: Mass Effect 3. USA: 2012.

id Software: Doom. USA: 1992.

id Software: Wolfenstein. USA: 1992.

LucasArts: E.T. – The Extraterrestrial. USA: 1983.

LucasArts: Indiana Jones and the Fate of Atlantis. USA: 1992.

LucasArts: Indiana Jones and the Last Crusade. USA: 1983.

LucasArts: Rebel Assault. USA: 1993.

Telltale Games: Game of Thrones: Season One. 6 Episoden. USA: 2014-15.

Telltale Games: Jurassic Park: The Game. 4 Episoden. USA: 2011.

Telltale Games: Tales from the Borderlands. 5 Episoden. USA: 2014-15.

Telltale Games: The Walking Dead: Season One. 5 Episoden. USA: 2012.

Telltale Games: The Wolf Among Us. 5 Episoden. USA: 2013-2014.

Three One Zero: Adr1ft. USA: 2016.

Texte

Beil, Benjamin: Point of View und Virtuelle Kamera. In: Film und Games – ein Wechselspiel (Katalog zu Ausstellung im Filmmuseum Frankfurt a.M.). Berlin: Bertz + Fischer 2015, S. 125-131.

Beil, Benjamin; Schmidt, Christian: The World of The Walking Dead – Transmediality and Transmedial Intermediality. In: Acta Universitatis Sapientiae: Film and Media Studies. 10, 2015, S. 73-88.

Beil, Benjamin; Schröter, Jens: Die Parallelperspektive im Digitalen Bild. In: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft. Jg. 11, H. 4, S. 127-137.

Del Barco, Mandalit:  Iñárritu Delivers A '360-Degree Emotional Experience' In 'The Revenant'. http://www.npr.org/2015/12/24/460852736/i-rritu-delivers-a-360-degree-emotional-experience-in-the-revenant [23.07.19]

Ellrich, Lutz: Film-Raum und Cyberspace. In: Bilstein, Johannes, Winzen, Mathias (Hg.): Multiple. Räume (3): Film. Baden-Baden: 2005, S. 94-103.

Freyermuth, Gundolf S.: Games | Game Design | Game Studies. Eine Einführung. Bielefeld: transcript Verlag 2015.

Gadamer, Hans-Georg: Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol und Fest. In : Gadamer, Hans-Georg (Hg.): Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage. Gesammelte Werke, Band 9, Tübingen: Mohr 1985, S. 95-142.

Günzel, Stephan: Die Realität des Simulationsbildes. Raum im Computerspiel. Schriften der Bauhaus-Universität Weimar. Jg. 18, H. 120. 2008, S. 127-136.

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Lindley, Craig A.: The Semiotics of Time Structure in Ludic Space As a Foundation for Analysis and Design, Game Studies, Jg. 5, H. 1. 2005 http://www.gamestudies.org/0501/lindley/ [14.07.19]

MacGregor, Jody: Telltale's choices aren't about plot, but something more significant. 2015. http://www.pcgamer.com/telltales-choices-arent-about-plot-but-something-more-significant/ [15.07.19]

Neitzel, Britta: Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen. Dissertation Universität Weimar, 2000.

Pias, Claus: Computer Spiel Welten. Dissertation Universität Weimar, 2000.

Punke, Michael: The Revenant: A Novel of Revenge. Picador 2002.

Rauscher, Andreas: Die ludische Leinwand oder: Das Videospiel im Zeitalter seiner ludischen Reproduzierbarkeit. In: Film und Games – ein Wechselspiel (Katalog zu Ausstellung im Filmmuseum Frankfurt a.M.). Berlin: Bertz + Fischer 2015, S. 97-105.

Rötzer, Florian: Die Begegnung von Computerspiel und Wirklichkeit. In: Kunstforum 176 (Juni-August 2005), S. 102-115.

Winkler, Hartmut: Der filmische Raum und der Zuschauer. ‚Apparatus‘ – Semantik – ‚Ideology‘. Universitätsverlag, Heidelberg: 1992.

Filme

Andrzej Bartkowiak: Doom. USA: John Wells Productions 2005.

Danny Boyle: The Beach. USA: Figment Films 2000.

Alfonso Cuarón: Children of Men. USA: Universal Pictures 2006.

Alfonso Cuarón: Gravity. USA: Warner Bros. 2013.

Alejandro González Iñárritu: Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance). USA: New Regency 2014.

Alejandro González Iñárritu: The Revenant. USA: 20th Century Fox 2015.

Peter Jackson: The Hobbit - The Battle of the Five Armies. USA: New Line Cinema 2014.

Bong Joon-ho: Snowpiercer. USA: SnowPiercer 2013.

Doug Liman: Edge of Tomorrow. USA: Warner Bros. 2014.

Mark Neveldine, Brian Taylor: Crank. USA: Lakeshore Entertainment, Lions Gate Films 2006.

Ridley Scott: Gladiator. USA: DreamWorks, Universal Pictures 2000.

Andy Wachowski; Lana Wachowski: The Matrix. USA: Warner Bros. 1999.

Joss Whedon: Avengers. USA: Marvel Studios, Paramount Studios 2012.

Bilder

Artikelbild: The Revenant, 20th Century Fox

Abb. 1: Amputation durch Tastendruck, Telltale Games

Abb. 2: Bärenangriff, 20th Century Fox

Abb. 3: Zombieangriff, Telltale Games

Abb. 4: Wundverödung durch Tastendruck

Abb. 5: Der letzte Blick, 20th Century Fox

  1. Zur Einteilung audiovisueller Medien siehe Freyermuth: Games | Game Design | Game Studies. 2015.[]
  2. Ähnlich formuliert Pias eine Minimaldefinition von Computerspielen: „Spiele, an denen mindestens ein Benutzer und ein Computer beteiligt ist; Spiele, die alle Spielelemente und Regeln auf Computerbasis implementieren; Spiele die zu ihrer Spielbarkeit eines Interface bedürfen.“ Pias: Computer Spiel Welten. 2000, S. 6.[]
  3. Rötzer: Die Begegnung von Computerspiel und Wirklichkeit. 2005, S.106.[]
  4. Stephan Günzel: Raum(bild)handlung im Computerspiel. 2013, S. 2.[]
  5. Mittlerweile existiert eine umfangreiche Online-Sammlung sogenannter Fan-Cuts, die Filmhandlungen neu montieren und beispielsweise herausgeschnittene Szenen wieder in den Handlungsverlauf integrieren. Über die Handlung hinaus hat sich ein ambitioniertes Team als Ziel gesetzt, auch (Sound-)Effekte der Star Wars-Originaltrilogie so zu restaurieren, dass sie der Kino-Uraufführung entsprechen; diese Despecialized-Edition macht die von vielen als unpassend empfundenen Änderungen, die später vorgenommen wurden, rückgängig. []
  6. Qualitativ übertroffen wurde das Spiel von seinem Nachfolger Indiana Jones and the Fate of Atlantis (LucasArts, 1992), der allerdings nicht auf einem Filmdrehbuch basiert.[]
  7. Zur Bedeutung des First-Person-Shooters hat Stephan Günzel ausgiebig geforscht; siehe v.a. Egoshooter. 2012.[]
  8. Günzel: Die Realität des Simulationsbildes. 2008, S. 130.[]
  9. Die Grenzen sind dabei fließend. Kennzeichnend für diese Sequenzen sind allerdings der im Vergleich zu anderen Spielsequenzen geringere Interaktionsgrad und eine Verschiebung des Schwerpunktes hin zum narrativen Geschehen.[]
  10. Die Firma nutzte die selbst entwickelte Game-Engine Telltale Tool für all ihre Spielentwicklungen. []
  11. Rauscher: Die ludische Leinwand. 2015, S. S. 99.[]
  12. Zu Computerspieladaptionen siehe auch Hepburn: The Technoludic Film. 2010. Beispiele für übernommene Spielelemente in Filmen sind eingeblendete Statusanzeigen bei The Beach (Danny Boyle, 2000) und Crank (Mark Neveldine und Brian Taylor, 2006) sowie die Sicht aus der Egoperspektive mit eingeblendeter Waffe für wenige Minuten bei Doom (Andrzej Bartkowiak, 2005). []
  13. vgl. Beil / Schmidt: The World of The Walking Dead. 2015, S. 73-88.[]
  14. Rauscher, 2015.[]
  15. Für eine ausführliche Auflistung von Filmen, die Computerspiele ästhetisch reflektieren, siehe Rauscher 2015.[]
  16. vgl. Rauscher, 2015.[]
  17. Es verwundert nicht, dass der Film als Computerspiel adaptiert wurde (Three One Zero: Adr1ft. USA: 2016).[]
  18. zitiert nach Del Barco:  Iñárritu Delivers A '360-Degree Emotional Experience In 'The Revenant'. http://www.npr.org/2015/12/24/460852736/i-rritu-delivers-a-360-degree-emotional-experience-in-the-revenant [23.07.19][]
  19. Günzel 2008, S. 133.[]
  20. Hoberg-Helm: Film und Computer. 1999, S. 44.[]
  21. Hoberg-Helm 1999, S. 51. Beispielhaft für die daraus resultierenden Möglichkeiten lässt sich der Film Panic Room (David Fincher, 2002) aufführen, in dem die virtuelle Kamera durch Fenster, Decken, Wände und den Griff einer Kaffeekanne schwebt.[]
  22. Hoberg-Helm 1999, S. 44.[]
  23. Einen ähnlichen Effekt kann man bei manchen Computerspielen erreichen, wenn man mit einer Befehlseingabe die Kollisionsabfrage ausschaltet und sich frei durch die Level bewegt, ohne von Türen, Wänden oder Decken und Böden eingeschränkt zu sein.[]
  24. Zum „Blick als Handlung“ siehe z.B. Beil / Schröter: Die Parallelperspektive im Digitalen Bild. 2011, S. 127-137.[]
  25. Neitzel: Gespielte Geschichten. 2000, S. 53.[]
  26. Ebd., S. 56.[]
  27. Gadamer: Die Aktualität des Schönen. 1985, S. 95-142. Zitiert nach Freyermuth 2015. []
  28. Klevjer: Telepresence, cinema, role-playing. The structure of player identity in 3D action-adventure games. 2011. https://runeklevjer.files.wordpress.com/2013/01/runeklevjerathenstalk.pdf [14.07.19][]
  29. Beispielhaft sei hier die Mass Effect-Reihe genannt (Bioware, 2007 / 2010 / 2012) []
  30. MacGregor: Telltale's choices aren't about plot, but something more significant. 2015 http://www.pcgamer.com/telltales-choices-arent-about-plot-but-something-more-significant/ [15.07.19][]
  31. Günzel definiert Plot (und Story) wie folgt: „Im Unterschied zur story, welche die Fülle der erzählten Einzelereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge meint, bezieht sich plot […]  nur auf solche Ereignisse, zwischen denen ein logischer oder kausaler Zusammenhang besteht […] Die story ergibt sich also aus der Tätigkeit des ›Erzählens‹ im wörtlichen Sinne als Auf- oder Herzählen von einzelnen (realen oder fiktionalen) Tatsachen, der plot hingegen ist die Handlung als der wirkursächliche Zusammenhang zwischen diesen.“ (Günzel 2013, S. 6) []
  32. Lindley: The Semiotics of Time Structure in Ludic Space As a Foundation for Analysis and Design. 2005 http://www.gamestudies.org/0501/lindley/ [14.07.19][]
  33. Günzel 2013, S. 8.[]
  34. MacGregor 2015.[]
  35. MacGregor 2015.[]
  36. Rauscher 2015.[]
  37. Eine Übersicht zu diesem Phänomen gibt Thomas Klein in Film und Games – ein Wechselspiel (2015, S.198-203.[]
  38. Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. 1992, S. 42.[]
  39. Winkler 1992, S. 228.[]
  40. Freyermuth 2015, S. 59.[]
  41. Ebd., S. 58.[]
  42. Kulik: The Revenant “ – Die Macht der Filmsprache. 2016 http://postmondaen.net/2016/01/07/the-revenant/ [19.07.19][]
  43. Ellrich: Film-Raum und Cyberspace. 2005, S. 5.[]
  44. Freyermuth 2015, S. 112.[]
  45. Zum Zeitaspekt siehe bspw. Ellrich 2005.[]
  46. vgl. Ellrich 2005.[]
  47. Kulik 2016.[]
  48. Ellrich 2005, S. 6.[]
  49. vgl. Beil: Point of View und Virtuelle Kamera. 2015, S. 125-131.[]

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Spies, Thomas: "Let’s Play ‚The Revenant‘: Ludifizierte Raumerschließung im Film als Spiegel einer digitalen Gesellschaft". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 13.12.2019, https://paidia.de/lets-play-the-revenant/. [20.04.2024 - 14:13]

Autor*innen:

Thomas Spies

Thomas Spies, Jahrgang 1982, studierte in Mainz Germanistik, Philosophie und Biologie und hat 2013 sein 2. Staatsexamen erfolgreich abgelegt. Studienbegleitend besuchte er Veranstaltungen und Seminare der Film- und Medienwissenschaften und entdeckte so seine Begeisterung für die Möglichkeiten audiovisueller Medien. Mittlerweile in Köln arbeitend, promoviert er an der dortigen Universität zum Thema „Traumadarstellung in Computerspielen“ am Institut für Medienkultur und Theater.