The Walking Dead in der Schule – Moralphilosophie nach der Apokalypse

21. Dezember 2015
Übersetzt von Elisabeth Heeke
Abstract: Kann ein Computerspiel Schüler dazu anregen, ethische Dilemmata zu diskutieren? Dieser Leitfaden für Lehrer bietet Anregungen, wie The Walking Dead im Religions-, Ethik- und Philosophieunterricht in der Oberstufe eingesetzt werden kann.

Zeitlicher Rahmen/Dauer: 1-3 Wochen, je nachdem ob eine oder zwei Episoden des Spiels gespielt werden

Plattformen: Windows, Apple OSX, Android und iOS.
Durch den Einsatz des Spiels im Unterricht soll für die Schüler ein anderer Rahmen geschaffen werden, in dem sie lernen, ethische Dilemmata zu diskutieren und moralphilosophische Modelle als Basis für die eigene Argumentation heranzuziehen.

Über das Spiel und seine edukativen Möglichkeiten

Das Adventure The Walking Dead 1 spielt in einer dystopischen, post-apokalyptischen Welt, in der die Menschen ums Überleben kämpfen müssen, weil die Toten als Zombies zurückkehren. 2

Die Hauptfigur des Spiels ist Lee Everett, ein strafrechtlich verurteilter Lehrer, der schnell in dramatische Ereignisse verwickelt wird. Der Spielmechanismus besteht im Wesentlichen aus einer langen Folge komplexer, schwieriger ethischer Dilemmata, mit denen sich der Spieler auseinandersetzen muss. Die Entscheidungen des Spielers formen die Geschichte des Spiels.
In The Walking Dead gibt es kaum einen Unterschied zwischen objektiv Gutem und objektiv Schlechtem, und der Spieler muss seine Entscheidungen häufig in verschiedenen ethischen Grauzonen treffen. Er gerät in viele Situationen, in denen verschiedene ethische Modelle zu sehr unterschiedlichen Lösungen eines gegebenen Dilemmas führen.
Dieser Leitfaden sieht vor, dass die ganze Klasse gemeinsam spielt, wobei das Spiel als Training in ethischem Disputieren und Denken dient. Über das webbasierte Quiztool Kahoot können die Schüler 3 abstimmen. 4 Jeder Schüler gibt in den Diskussionen seine Stimme über Kahoot ab, und die Option mit den meisten Stimmen wird im Spiel gewählt. Alternativ können Handzeichen oder andere digitale Tools wie zum Beispiel letsgeddit.com eingesetzt werden.

The Walking Dead ist für fast alle Plattformen und Konsolen verfügbar. Das Spiel besteht aus mehreren Staffeln, die in Episoden unterteilt sind, wenn Sie das Projekt aber auf einen zeitlichen Rahmen von drei bis vier Wochen beschränken möchten, sollte das Spielen auf eine Episode begrenzt werden. Episode 1 ist für iOS und Android kostenlos verfügbar.

Screenshot aus "The Walking Dead" 2012

Screenshot aus "The Walking Dead" 2012

Altersempfehlung

Das Spiel ist ab 18 Jahren freigegeben (PEGI-Einstufung 18 [Anm. Redaktion: USK 18]). Das visuelle Design ähnelt dem von Animationsfilmen (Cartoons), das Spiel ist aber an manchen Stellen gewalthaltig. Lehrer sollten das Spiel im Klassenzimmer auf keinen Fall verwenden, ohne das Direktorat/die Schulverwaltung über Inhalt und Ziele des Projekts in Kenntnis zu setzen.
The Walking Dead behandelt Themen, die Vielen unangenehm sind – existentiellen Nihilismus, Recht und Gesetz nach dem Ende der Zivilisation und Sterbehilfe –, aber diese Themen sind gleichzeitig geeignet, die Schüler dazu zu motivieren, aktiv und engagiert mitzuarbeiten und sich für moralphilosophische Themen zu interessieren.

Schwierigkeitsgrad Lehrer

Rein technisch gesehen, ist der Zugang zu The Walking Dead unkompliziert. Das Spiel besitzt einfache und intuitive Bedienelemente, und es ist klar erkennbar, mit welchen Objekten man interagieren kann und wozu sie benutzt werden können. Die Lösungen für die Rätsel des Spiels sind in der Regel ziemlich einfach und leicht verständlich.

Schwierigkeitsgrad Schüler

Die Schüler sollten den größten Teil des tatsächlichen Spielens selbst übernehmen. Um jedoch Zeit zu sparen, ist es von Vorteil, wenn der Lehrer das Spiel zuvor gespielt hat und weiß, was zum Weiterkommen getan werden muss. Dann kann er gegebenenfalls Beiträge liefern und den Schülern Ratschläge geben, was sie tun sollten. Schüler, die das Spiel noch nie gespielt haben, brauchen möglicherweise etwas Zeit, um sich an die Steuerung zu gewöhnen, aber die Spielmechanik ist in keinem Fall wesentlich für den Lernerfolg.
Die wichtigste Interaktion zwischen Spiel und Schülern entsteht durch die Abstimmungen, und deshalb werden auch alle Schüler an der Entscheidung, was im Spiel als nächstes getan werden soll, beteiligt. Es ist daher nicht notwendig, dass jeder Schüler aktiv spielt.

Lernprinzipen

Embodied, situated learning:
In seinem Buch What Video Games have to teach us about Learning and Literacy 5 betont James Paul Gee, dass man nie lange warten muss, um das zu üben, was man in Spielen gelernt hat. Wenn man einen neuen Begriff oder ein neues Konzept erlernt hat, eine neue Fertigkeit oder einen Spielmechanismus, ist es kein großer Sprung von der Theorie zur Praxis. Nach Gee haben dies alle guten Computerspiele gemeinsam.

Im Lehrkontext kann dieses Prinzip genutzt werden, um mit Spielen einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen die Schüler rasch anwenden können, was sie gelernt haben. Das Prinzip lässt sich auch auf andere Medien übertragen, aber Spiele schaffen durch Interaktivität eine Feedbackschleife aus Aktion und Reaktion, und das erworbene Wissen kann helfen, zu motivieren und den ausgeführten Aktionen im Spiel einen Sinn zu geben.
„Scaffolding for emptiness“:

Nach Jordan Shapiro können Spiele sehr funktionale Lernwerkzeuge sein, weil sie ein Gerüst schaffen, das die Schüler nutzen können, wenn neues Wissen erworben und erlernt werden muss.[ 6 ]

Die Dilemmata in The Walking Dead können beispielsweise als mentale Anker für Wissen dienen. Wie erwähnt kann dies auch durch Texte oder Filme erreicht werden, aber der Rahmen beim Lernen mit Spielen ist anders und fördert eher aktives als passives Lernen.

Vorbereitung (Prepare yourself)

Spielen Sie alle Teile des Spiels, die Sie nutzen möchten, durch. Gehen Sie sicher, dass zu Beginn der Stunde bereits alle praktischen Hürden überwunden sind, zum Beispiel, dass das Spiel installiert ist.

Spiele in der Schule zu nutzen, kann eine Herausforderung für Lehrer sein, bei der ein paar Hindernisse auftreten können. Viele Schüler sind bereits sehr erfahren in diesem Bereich und höchstwahrscheinlich dazu fähig, weiterzuhelfen. Denken Sie immer daran, dass Sie zuallererst Lehrer sind – es ist nicht so schlimm, wenn Sie ein- oder zweimal ‚sterben’. Nutzen Sie die Tatsache, dass Spiele interaktiv sind und haben Sie keine Angst, bei passender Gelegenheit oder wenn die Situation es erfordert, eine Pause einzulegen. Machen Sie das „Was sollen wir jetzt tun?“ zum Mantra in Ihrer Klasse.

Mögliche Aufgaben und ethische Dilemmata

Es folgt ein kurzer Überblick über die zentralen Dilemmata in der ersten Episode des Spiels sowie ein Vorschlag, wie diese didaktisch fruchtbar gemacht werden können.
Beim Spielstart werden Sie von manchen Plattformen zur Wahl einer „Anzeigeoption“ aufgefordert. Sie sollten „Standard“ wählen, dann zeigt das Spiel an, mit welchen Objekten und Elementen Sie interagieren können. Dadurch wird das Spielen etwas einfacher. Wenn Dialoge auftauchen, können Sie die Schüler einwerfen lassen, was der Spieler im Spiel tun sollte, aber bei wichtigen Entscheidungen, zum Beispiel bei einem Dilemma, müssen Sie das Spiel pausieren (je nach Plattform durch Drücken der ESC- oder Starttaste).

Das Projekt sieht vor, dass die Schüler jede ethische Theorie separat kennenlernen, idealerweise nach Auftreten eines Dilemmas aber vor der Entscheidung für eine Lösung. Nach einer kurzen Einführung können die Schüler in Gruppen diskutieren und herausarbeiten, welche Lösung nach der besprochenen Theorie die beste ist. Sobald die Schüler ihre Diskussion beendet haben (Zeitrahmen ca. 3-5 Minuten), wird abgestimmt. Die Option mit den meisten Stimmen wird im Spiel umgesetzt. Nachdem alle Theorien eingeführt wurden, können die Schüler auch in den Diskussionen auf alle zurückgreifen.

Screenshot aus "The Walking Dead" 2012

Screenshot aus "The Walking Dead" 2012

Das erste Dilemma erscheint erst nach ein paar Minuten, und manche Schüler nehmen das Spiel vielleicht als langsam wahr. Das ist aber nicht problematisch. Es ist sogar wichtig, dass die Schüler (und Sie als Lehrer) Lee und Clementine, das Kind, um das er sich kümmert, kennenlernen. Wenn die Figuren Ihnen ans Herz gewachsen sind, beeinflussen zusätzliche affektive Elemente den Entscheidungsprozess (ethics of proximity). In dieser Zeit können die Schüler sich zudem an die Spielmechanik gewöhnen.

Dilemma 1: Lügen oder nicht lügen – Episode 1

Das erste größere Dilemma für Lee ist die Frage, ob er über seine Vergangenheit und seine Verletzung die Wahrheit sagen soll. Man hat die Wahl, ehrlich zu sein (Antwort „Autounfall“) oder Informationen zu verschweigen, um sich selbst zu schützen. Die Schüler sollten vor jedem Dilemma eine ethische Theorie kennenlernen. Dann ziehen sie diese Theorie für ihre Entscheidung heran. Bei diesem Dilemma könnte man zum Beispiel die Tugendethik von Aristoteles aufgreifen. In dieser werden die Tugenden und Laster diskutiert, die sich auf Basis einzelner Entscheidungen für oder gegen die Wahrheit entwickeln. Machen Sie Ihre Schüler auf die Beziehungen aufmerksam.

Dilemma 2: Wer soll gerettet werden? – Episode 1

Ein weiteres größeres Dilemma ist die Frage, welche von zwei Personen man aus einer Gefahr rettet soll – einen jungen Mann, der auf sich selbst aufpassen kann und der Gruppe nützen würde, oder ein unschuldiges Kind. Mit diesem Dilemma können die Schüler an den allgemeinen Konsequentialismus herangeführt werden. Da nur eine Person gerettet werden kann, müssen die Schüler sich mit den Folgen der jeweiligen Entscheidung auseinandersetzen und Verantwortung übernehmen. Sie können zusätzlich den Unterschied zwischen allgemeiner konsequentialistischer Ethik und Utilitarismus thematisieren: Wie viel Freude oder Leid würde jede Aktion in dieser Situation insgesamt hervorbringen?

Dilemma 3: Ein Kind wurde gebissen! – Episode 1

Bei dem dritten Dilemma muss man entscheiden, ob ein Kind, das von einem Zombie gebissen wurde, weggeschickt wird. Dabei ist zu beachten, dass die Entscheidung in diesem Fall keinen Einfluss auf die Geschichte als Ganzes hat. Das Kind überlebt in dieser Situation in beiden Fällen, dennoch kann das der Ausgangspunkt für eine fruchtbare Diskussion sein. Hier können Sie die Implikationen affektiver Elemente für den Entscheidungsprozess (ethics of proximity) demonstrieren: Wir tragen mehr Verantwortung für das Kind und seine Familie als für Fremde, denen man von Zeit zu Zeit begegnet. Sie können auf Basis dieses Dilemmas auch die konsequentialistische Ethik vertiefen oder die Pflichtethik und Kants Kategorischen Imperativ besprechen.

Ausrüstung

Da das Spielen im Projekt in demselben Klassenzimmer stattfindet wie die Abstimmungen und Besprechungen, wird nicht viel technische Ausrüstung benötigt. Ausreichend sind ein Beamer oder ein Smartboard und ein Tablet-PC, ein PC oder eine Spielkonsole, auf der das Spiel läuft. Vielleicht hat der ein oder andere Schüler das Spiel selbst zu Hause und kann passendes Equipment zur Verfügung stellen. Wenn Sie einen Tablet-PC verwenden, können Apple TV oder Chromecast genutzt werden, um das Bild an den Beamer zu senden. Für Kahoot brauchen Sie einen Internet-Browser. Es ist empfehlenswert, Spiel und Abstimmung auf demselben Gerät laufen zu lassen, damit Sie nicht andauernd den Videoeingang für den Beamer wechseln müssen. Wenn Sie Kahoot verwenden, brauchen auch alle Schüler einen Internet-Browser auf ihrem Computer, Tablet-PC oder Smartphone. 7

Auswertung

Mit Gruppendiskussionen können Sie auf effektive Weise feststellen, ob die Schüler die ethischen Theorien verstanden und verinnerlicht haben. Die Schüler können in Zweier- oder Dreiergruppen unterschiedliche Themen (zwei Dilemmata haben sich bewährt) vor dem Hintergrund der ethischen Theorien besprechen. Die Dilemmata können von den Schülern selbst generiert werden, aus dem Spiel übernommen oder vom Lehrer formuliert werden, zum Beispiel unter Rückgriff auf Probleme aus der realen Welt (Abtreibung, das Recht auf Verweigerung medizinischer Behandlung, Euthanasie, etc.). Erfolgsmaßstab ist die Fähigkeit der Schüler, das beim Spielen Besprochene zu abstrahieren und angemessen auf neue, unbekannte Dilemmata anzuwenden. Wenn sie es schaffen, bekannte Dilemmata (zum Beispiel Todesstrafe oder ‚Right of Refusal‘) in einem neuen Licht zu sehen und nicht rein affektiv zu reagieren, deutet dies auf einen guten Lernerfolg hin.

Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien

Spiele

Telltale Games: The Walking Dead. (iOS). USA: Telltale Games 2012-2014.

Texte

Gee, James P.: What video games have to teach us about learning and literacy. Überarbeitete und aktualisierte Auflage. New York, NY u.a.: Palgrave Macmillan 2007.
Shapiro, Jordan: Here's Why We Need Video Games In Every Classroom. In: forbes.com. 19.03.2014. <http://www.forbes.com/sites/jordanshapiro/2014/03/19/heres-why-we-need-video-games-in-every-classroom/>

  1. TelltaleGames: The Walking Dead. 2012-2014. []
  2. Die Originalfassung des Texts wurde 2014 auf Norwegisch und Englisch vom Norwegian Centre for ICT in Education veröffentlicht und mit Genehmigung des Autors von Elisabeth Heeke ins Deutsche übersetzt und an die „redaktionellen Hinweise“ von Paidia – Zeitschrift für Computerspielforschung angepasst. Die Originalfassungen finden sich auf der Seite des Norwegian Centre for ICT in Education: https://iktipraksis.iktsenteret.no/content/walking-dead-i-skolen-%E2%80%93-moralfilosofi-etter-apokalypsen undhttps://iktipraksis.iktsenteret.no/sites/default/files/files/TWD_English.pdf []
  3. Im Folgenden sind Heranwachsende beiderlei Geschlecht beim Begriff Schüler mitgedacht []
  4. Das Quiz wird auf getkahoot.com bereitgestellt []
  5. Gee: What video games have to teach us about learning and literacy. 2007. []
  6. Hinweis der Redaktion vgl. Shapiro: Here's Why We Need Video Games In Every Classroom. 2014 []
  7. Kahoot erhalten Sie auf getkahoot.com. []

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Staaby, Tobias: "The Walking Dead in der Schule – Moralphilosophie nach der Apokalypse". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 21.12.2015, https://paidia.de/the-walking-dead-in-der-schule-moralphilosophie-nach-der-apokalypse/. [19.04.2024 - 09:52]

Autor*innen:

Tobias Staaby

Tobias Staaby ist Lehrer und Sonderbeauftragter für Spiele im Unterricht an der Nordahl Grieg Videregående Skole, Norwegen (entspricht etwa dem Gymnasium in Deutschland). Game Based Learning ist eine Reihe von Lehranleitungen für den Einsatz von Computerspielen im Schulunterricht. Die Leitfäden werden von Lehrern für Lehrer verfasst und vom Norwegian Centre for ICT in Education veröffentlicht. Das Norwegian Centre for ICT in Education unterstützt mit verschiedenen Dienstleistungen die Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnik in der Bildung und fördert so effizienteres Lernen und höhere Qualität im Bildungssystem – vom Kindergarten bis hin zur Lehrerbildung. www.iktsenteret.no / post@iktsenteret.no