"Erinnern ist immer eine Form der Selbsterzählung" - Paidia im Gespräch mit Kevin Mentz

24. September 2013
Abstract: Paidia hat sich mit Kevin Mentz unterhalten, dem Schöpfer des Adventures  ‚Memoria’, das Ende letzten Monats (August 2013) erschienen ist und im Universum des größten deutschen Rollenspiels ‚Das Schwarze Auge’ (DSA) spielt. Doch sprachen wir nicht nur über das Spiel selbst, sondern auch über das Genre des Adventures, über Pen&Paper-Rollenspiele und deren Umsetzung am Computer wie auch über Erzählen und Erinnern als Form der Selbstkonstitution. Das Interview führte Tobias Unterhuber. (In eigener Sache: Dieses Interview ist der erste Beitrag in unserer neuen Kategorie "Paidia im Gespräch", in der wir von nun an immer wieder Interviews zu den uns interessierenden Fragestellungen mit Entwicklern und Wissenschaftlern führen werden.)

‚Memoria’ ist ein Adventure im Universum des Pen&Paper-Rollenspiels ‚Das Schwarze Auge’. Natürlich scheint es eigentlich intuitiver davon auszugehen, wenn man ein DSA-Computerspiel kreieren möchte, ebenfalls ein Rollenspiel zu produzieren. Was hat euch bei ‚Memoria’ und auch bei seinem Vorgänger ‚Satinavs Ketten’ auf die Idee gebracht, stattdessen ein Adventure zu machen?

So abwegig finde ich das gar nicht. Auf das generelle Fundament heruntergebrochen besteht ein Pen&Paper-System wie ‚Das Schwarze Auge’ ja zum einen aus einem Regelwerk und einer Datenbank. Das Regel­werk umfasst dabei die Gesetze, nach der ein Spieler seinen Charakter erschafft und das bestimmt, wie erfolgreich er ihn innerhalb der zu Beginn ausgewürfelten Charakterwerte spielen kann. Die Daten­bank beinhaltet dagegen die gesamte Welt, in der er sich anschließend bewegen kann: Welche Monster er trifft, mit welchen Waffen er kämpft, welche "historischen" Figuren ihm begegnen können und wo. Für sich genommen sind die Regeln die Grundlage für das Rollenspiel, während die Datenbank als rohe Masse für jegliche Art von Spiel oder Geschichte dienen kann.

Dieser Rohmasse fehlt nun die narrative Struktur. Sie hat keinen Anfang, kein Ende, keine Dramaturgie. Das ist natürlich gewollt, denn sie soll für die jeweiligen Spielleiter möglichst flexibel einsetzbar sein. Sie sind es, die das Material ordnen und für ihre Spieler aufbereiten, so dass mit jeder Runde eine einzigartige neue Konstellation und Struktur des Materials möglich wird. Darüber hinaus lässt es sich natürlich auch für andere Arten von Erzählungen verwenden. Man kann Romane daraus machen oder Filme. Oder man ordnet den Stoff nach den Regeln und der Logik eines Grafik-Adventures, wie wir es gemacht haben.

(Interessant ist an dieser Stelle, dass selbst in einem Computer-Rollenspiel wie ‚Drakensang’ nur die Daten­bank intakt bleiben kann, das Regelwerk dagegen immer den Erfordernissen des neuen Mediums angepasst werden muss. Allgemein gesagt: Jede Adaption muss die Regeln neu definieren.)

Es ist also die Spielwelt als Datenbank, die du als Grundlage ansiehst und weniger  ihre konkrete Fassung in Regeln. Das leuchtet ein, vor allem da hier wohl DSA mit seinem wirklich umfangreichen Universum mehr als genug Stoff bietet.
Was ich aber im speziellen interessant an diesem Um­gang mit dem Stoff finde, ist, dass es dir gelungen ist, in der Form des Adventures etwas einzufangen, was ich als das Spielgefühl oder die Atmosphäre Aventuriens und des Schwarzen Auges bezeichnen würde. Das fiel mir auch schon beim Vorgänger auf. Ich persönlich hatte das Gefühl, mich auf ähnliche Weise in dieser fiktiven Welt zu bewegen, wie ich es eben auch aus dem Pen&Paper kenne. Liegt dies vielleicht auch daran, dass die Strukturen von Adventure und Rollen­spiel doch ähnlicher sind, als man auf den ersten Blick vermuten könnte? Immerhin sind beides Spieletypen, die sich stark auf narrative Strukturen stützen.

Meiner Erfahrung nach (und das bezieht sich nicht nur auf das Spielen von DSA), lebt das Spiel­erlebnis und damit auch die Atmosphäre eines Pen&Paper-Spiels sehr stark von der Erfahrung der geradezu intimen Spielrunde. Man trifft sich mit Freunden und beginnt sich gegenseitig Geschichten von seinen Abenteuern zu erzählen. Die Geschichten strotzen nur so von den Persönlichkeiten der Spieler und formen sich danach. Auch wenn sie andere Rollen einnehmen, offenbart sich jeder mit seiner eigenen Spielweise, seinen Kommentaren und seinen Handlungen. Ich selbst habe nur in jungen Jahren über einen sehr kurzen Zeit­raum Rollenspiele gespielt, aber jedes Mal, wenn wir uns trafen, hatte es für mich etwas sehr Persönliches (der kleine, intime Raum, den wir uns dabei schufen, wurde zu­sätzlich noch dadurch verstärkt, dass wir häufig in abgedunkelten Räumen bei Kerzenlicht spielten).

Ich kann nun nur Ver­mutungen anstellen, warum sich genau dieses Gefühl so gut auf Adventures übertragen ließ. In Memoria hatte ich versucht, es gleich zu Beginn des Spiels herzustellen, indem der Protagonist des Spiels einen ebenso privaten, ge­mütlichen Ort betritt, wie ich es von damals kannte: Der stimmungs­voll ausgeleuchtete Innenraum eines orientalischen Zeltes und da dann sofort, wie ein alter Freund in Empfang genommen wird. Ihm wird Tee angeboten, etwas gesmalltalked und erst danach geht es mit dem eigentlichen Spiel los. Das allein reicht allerdings natürlich bei Weitem noch nicht.

Ich vermute, dass das Spiel im weiteren Verlauf, diesen recht persönlichen und heimeligen Charakter beibehält (das ist zumindest das, was ich erreichen wollte), da das Genre des Adventures selbst, immer etwas sehr ruhiges und persönliches an sich hat. Man kämpft sich nicht hektisch durch Gegnerhorden oder muss strategisch geschickt Truppen bewegen. Viel mehr erlaubt diese Form von Spiel viele kleine Zwischentöne, eine gemütlichere Erzählweise (überhaupt mehr klassische „Erzählung“ als in anderen Spielen), augenzwinkernden Humor, etc. was ja auch den Charakter einer jeden Rollenspielgruppe ausmacht (es gibt In-Jokes in jeder Gruppe, und jede epische Schlacht wird jedes Mal wieder durch das Auswürfeln irgendwelcher Werte auf den Boden und das gemütliche Tempo der Spielrunde zurückgebracht).

Ich bin mir nicht sicher, ob du bereit bist mir da zuzustimmen, aber ich ver­mute, dass die ge­mütliche Erzähl­weise eines Adventures, die sehr nah an den Persönlich­keiten seiner Protagonisten dran ist, sehr viel Ähnlichkeit mit dem Privaten und Freundschaftlichen in einer Rollenspiel­runde gemein hat. Ich muss gestehen, dass mir dieser Gedanke eben erst beim Schreiben gekommen ist, aber vielleicht lohnt es sich mehr darüber nachzudenken.

Welche Besonderheiten hat für dich eine solche Art der Adaption oder Umsetzung im Vergleich zu Literatur- oder Film-basierten? Bringt eine solche Herangehensweise vielleicht besondere Schwierigkeiten oder auch Vorteile mit sich?

Die größte Schwierig­keit bei einem Computerspiel besteht immer darin, die Geschichte wirklich spielbar zu machen. D.h. die Handlungen der Protagonisten müssen die Handlungen des Spielers sein. Wenn man den Spieler zu einem bloßen Zuschauer degradiert, ist er/sie schnell enttäuscht und langweilt sich. Man hätte ja auch gleich einen Film ansehen können. Das bedeutet, dass die Handlung mit all ihren Wendungen und Höhepunkten Anlass für spielerische Momente geben muss. Im Falle eines Adventures heißt das, dass man alle Ereignisse in so­genannte Rätsel übersetzen muss. Das heißt, die Hindernisse, denen die Akteure gegenüber stehen, müssen vom Spieler kreativ gelöst werden. Er soll nicht bloß klicken müssen, sondern muss sich aktiv mit einem Problem auseinander setzen, es durch­denken und so schließlich lösen. Sowohl das Rätsel als auch die Form der Lösung muss dabei etwas über die Geschichte, das Thema des Spiels und auf jeden Fall auch über den Charakter des Handelnden erzählen.

Der große Vorteil hierbei ist, dass der Spieler sehr stark eingebunden werden kann. Immerhin bringt er die Geschichte in dem von ihm gewählten Tempo voran.

Würdest du zustimmen, dass das auch Computer­spiele im Kern ausmacht, dass der Spieler Entscheidungen trifft, also selbst aktiv handeln darf, wozu eben auch die Interpretation und Deutung des ihm Präsentierten gehört, was ja die Grundlagen für seine Entscheidung bildet?

Ja, auf jeden Fall. Ob der Spieler dabei tatsächlich Entscheidungen trifft oder sich nur der Illusion der Entscheidungsgewalt hingibt, sei dahingestellt. Was ich an deiner Frage vor allem sehr interessant finde, ist, dass du von Interpretationen des Spielers als motivationsgebend für bestimmte Handlungen sprichst.

In Memoria trifft man selbst fast nahezu nie wirklich eine Entscheidung, die Konsequenzen für das weitere Geschehen hat. Allerdings wird der Spieler permanent dazu animiert, Mutmaßungen und Interpretationen zu der Geschichte zu machen. Dieser Vorgang ist allerdings keineswegs spezifisch „spielerisch“. Er unterscheidet sich in keinster Weise vom Interpretieren und Durchdenken zum Beispiel eines Romans.
Ich hatte nun ganz am Schluss des Spiels versucht, doch eine weitreichende Ent­scheidung für den Spieler einzu­bauen, in der einiges an Auslegung der Themen des Spiels zum Tragen kommen sollte. Das hat aber leider nicht ganz so gut funktioniert, wie ich gehofft hatte. Nur wenige Spieler wurden sich dessen bewusst, bzw. fanden sich eher selten in einem inneren Konflikt wieder, wo es zwingend wurde, Ereignisse im Spiel zu deuten. Vielmehr entschieden sich die meisten ohne mit der Wimper zu zucken für das – meiner Meinung nach – extrem moralisch fragwürdige Ende. (Anm. der Red.: Am Ende des Spiels wird der Spieler vor die Entscheidung gestellt, ob er Nuri, die Freundin Gerons in ihrer Vogelgesalt belässt und sie die Freiheit dieser Existenz genießen lässt oder ob er den auf ihr liegenden Zauber aufhebt und sie so zurückverwandelt, wobei sie sich nicht mehr an ihr bisheriges Leben erinnern kann. Besonders durch die den Charakter definierende Freiheits­liebe soll diese Entscheidung weiter erschwert werden.)

Interessant wäre es nun, ein Spiel zu machen, das mehrere solcher Entscheidungs­momente präsentiert, die eine Auslegung des bisher erlebten voraussetzen und die die Spieler dabei viel mehr provozieren als es das Ende von Memoria effektiv schaffte.

(An dieser Stelle würde mich interessieren, wie du Gerons Entscheidung am Ende des Spiels empfunden hast. War es schwierig?)

(Ich hatte wirklich meine Schwierigkeiten damit und saß eine ganze Zeit vor dem Computer und habe nachgedacht. Schlussendlich habe ich mich dann für die Option  entschieden, die meiner Meinung nach besser zu Geron und seinen Wünschen passen dürfte. So ganz wohl war mir damit aber dennoch nicht.)

 ‚Memorias’ Erzählung dreht sich ja unter anderem um ein vom Protagonisten Geron zu lösendes Rätsel. Rätsel aber sind natürlich auf Seite des Gameplays der essentiellste Bestandteil von Adventures überhaupt. Steckt hinter dieser Idee der Gedanke einer möglichst engen Verknüpfung von erzählerischen und spielerischen Aspekten des Computerspiels?  

Ja, das war tatsächlich mein großes Ziel. Ich wollte, dass sich Rätsel (also das Spiel) und die Story des Spiels so eng wie möglich ineinander verzahnten. Wie oben beschrieben, ging es da zum einen darum, die Geschichte über die Rätsel und Aufgaben des Spielers voran­zutreiben, zum anderen wollte ich aber auch den Plot nach der Logik eines Rätsels strukturieren. Im Grunde funktioniert das nicht anders als in jedem herkömmlichen Kriminalroman: Am Anfang gibt es eine Leiche (das Rätsel: Wer war der Mörder?) und am Ende enttarnt man den Mörder (die Lösung), und alle Charaktere und Erkenntnisse, die die Ermittler dazwischen treffen und machen, führen entweder auf eine falsche Fährte oder zur Lösung.

Ich dachte mir, wenn jemand ein Adventure spielt und bereit ist, Puzzleteile in seinem Kopf hin- und her­zuschieben, zu interpretieren und permanent an Rätsel­lösungen zu arbeiten, dann soll er das auch mit der Geschichte machen können. So stellt jedes Ereignis im Spiel ein individuelles Puzzleteil dar, was die Geschichte lange Zeit recht fragmentiert aussehen lässt - man weiß nicht, wo die Geschichte hinführt, was die Lösung des Rätsels ist - bis schließlich am Schluss alle Teile ineinandergreifen und eine Art Kettenreaktion auslösen, die dem Spieler das Gesamt­bild preisgibt.

Auch hierzu möchte ich kurz auf meine eigene Spielerfahrung von ‚Memoria’  verweisen. Als ich  mich mit Sadja im Wald verlief, und das  sogar recht lange (was mir das wunderbare Achievement „Der Weg ist das Ziel“ einbrachte), hatte ich eben kein Gefühl der Langeweile oder des Genervtseins, obwohl diese Art Rätsel ja bereits seit ‚The Secret of Monkey Island’ zum festen Inventar des Genres gehört. Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass es zur Geschichte passt, dass ich nicht sofort den richtigen Weg finde. Vielleicht merkt man auch an solchen Passagen, dass viele Typen von Computer­spielen eben nicht dem Konzept von Verlieren/Gewinnen, wie es für viele andere Arten von Spielen wichtig ist, folgen, sondern vielmehr wie eben Literatur das Durchleben einer Geschichte in den Mittelpunkt stellen, nur dass man als Rezipient eines Computerspiels nicht passiv bleibt, sondern aktiv handelt.

Das freut mich, dass dir das Labyrinth gefallen hat. Tatsächlich haben wir gerade für diese Sequenz sehr viel Kritik einstecken müssen, weil sie Leute aus ihrem Storyflow rausgeworfen hat und sie nahezu verzweifelt ohne nennenswerten Input von Seiten des Spiels durch die immer gleichen Räume irren mussten.

Wir wollten dabei genau das erreichen, was du oben beschrieben hast. Die Verloren­heit des Spielers, sollte ihm Sadjas Verzweiflung nahe bringen. Also genau wie du sagst, es sollte ein Gefühl der Protagonistin für den Rezipienten erfahr­bar machen. Vielleicht hätte es funktioniert, wenn wir Sadja die potentiellen Gedanken des Spielers in den Mund gelegt hätten und sie damit den Irrweg hier und da kommentiert hätte („Schon wieder dieses verdammte Wildschwein!“ oder „War ich hier schon mal?“)

Generell kann man aber an Hand dieser Szene eine große Schwierigkeit beim Erzählen in narrativen Computerspielen aufzeigen: Der Spieler ist anders als in Romanen und Filmen aktiv, ja, aber dabei verfolgt er nicht immer die gleiche Motivation wie die Figur, die er spielt. Er will die Story erleben, er will den Raum erkunden oder einfach nur unterhalten werden. Sadja will in dieser Szene überleben. Sie macht ihren weggelaufenen Bergführer und das unübersichtliche Dickicht für ihre Misere verantwortlich, der Spieler flucht auf den Game Designer. Da wird ein Graben aufgemacht, der jede Form von Immersion sofort unterbindet.

Umso mehr freut es mich gerade auch, dass du dich in dieser Szene in sie hineinversetzen konntest. Wie gesagt, das war das Ziel. Aber die Wenigsten lassen sich wirklich auf so etwas ein.

Auch scheint mir ‚Memoria‘ auf vielseitige Weise das Erzählen von Geschichten selbst zu verhandeln, vor allem dadurch, dass einer der beiden Handlungss­tränge eigentlich eine intradiegetische, also eine innerhalb der eigentlichen Erzählung stattfindende Geschichte darstellt, die teils mündlich, teils in den Träumen Gerons sowie durch historische Schrift­stücke erzählt wird, wobei gerade auch immer wieder die Art und Weise des Erzählens eine wichtige Rolle spielt. Ich würde deshalb die These aufstellen, dass eigentlich das Erzählen selbst das wirkliche Hauptthema ‚Memorias’ ist. Würdest du da zustimmen?

Ja, da hast du voll­kommen recht. Das heißt, es geht schon ums Erzählen, aber viel mehr noch um die aktive Tätigkeit des Erinnerns. Der Vorgänger Satinavs Ketten handelte von Zukunftserwartungen und Schicksal. Kann ich aus einem vorbestimmten Schicksal ausbrechen? Ist es überhaupt möglich, meine Zukunft zu kennen, und was würde das für mich bedeuten? Darum wollte ich Memoria (man merkt es schon am Titel) von unserem Verhältnis zur Vergangen­heit handeln lassen. Es geht darum, wie wir uns über unsere Erinnerungen selbst definieren, egal ob das, an das wir uns zu erinnern glauben, wirklich so stattgefunden hat oder nicht. Geron ist ein Mann, der sich von seiner eigenen Vergangenheit nicht lösen kann, sie sogar glorifiziert, während seine Freundin Nuri eine ganz andere Sicht auf ihre gemeinsamen Reisen hat. Im Gegensatz dazu ist Sadja eine Frau, die unter ihrer Vergangenheit leidet und alles versucht, um ihre Identität durch etwas Neues zu über­schreiben. Sie wird dabei von einem sprechenden Zauber­stab begleitet, der keinerlei Erinnerungen an sein früheres Leben hat und sich daher zunehmend durch seine Erlebnisse mit Sadja definiert.

Erinnern ist dabei ja immer eine Form der Selbsterzählung (vielleicht kennst du da ein besseres Wort). Wir müssen Erlebtes strukturieren und gewichten, um uns daraus ein Bild von uns selbst machen zu können. In ‚Memoria’ wird dieser Akt des sinngebenden Erinnerns auf vielerlei Weise dargestellt - als erzählte Geschichte, als Traum, als Tagebuch, und wenn schließlich nicht genug Erinnerungen zur Verfügung stehen, um ein historisches Ereignis zu Ende zu denken, muss man eben anfangen zu spekulieren oder zu interpretieren. Und darauf läuft dann ja auch letztlich das große Finale des Spiels zu.

Erinnern begriffen als eine Art der narrativen Selbst- oder auch Fremd-Konstruktion und die Macht der Phantasie und des Erzählens stehen also im Mittelpunkt. Damit verhandelt ‚Memoria’ wirklich grundlegende Themen unseres Daseins als Menschen. Um einmal kultur-konservative Vorurteile gegen die „neuen Medien“, denen ich kein bisschen zustimme, zu bemühen: So etwas sollte man doch in hochkulturellen Formen wie der Literatur verhandeln und nicht in einem Computer­spiel. Warum solle man so etwas in einem Computerspiel verhandeln?

Warum nicht? Computerspiele sind als Medium ja noch sehr jung, aber das heißt in keinster Weise, dass man ihre Grenzen nicht ausloten und weiterdenken sollte – im Gegenteil. Spiele sind eine neue Form, für die wir so langsam eine Sprache entwickeln, mit der theoretisch Dinge möglich werden, die vielleicht in anderen traditionellen Medien nicht (oder nur sehr begrenzt) möglich sind.

Spiele haben einfach eine andere Struktur, sie binden ihre Rezipienten anders ein und erlauben damit andere Erfahrungen. Was diese Erfahrungen sind und wie sich diese Struktur dahin­gehend benutzen lässt, müssen wir eben erst noch heraus­finden, aber wenn ich jetzt lese, dass ein Spiel wie Memoria viele Spieler extrem bewegt und auf­gewühlt hat, manche auf ihren Blogs sogar anfangen, über die Themen des Spiels nach­zudenken, dann heißt das doch, dass auch ein Spiel einen narrativen Tief­gang haben kann, uns etwas über uns selbst erzählen darf. Es funktioniert. Warum sollte man es also nicht machen?

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Unterhuber, Tobias: ""Erinnern ist immer eine Form der Selbsterzählung" - Paidia im Gespräch mit Kevin Mentz". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 24.09.2013, https://paidia.de/erinnern-ist-immer-eine-form-der-selbsterzahlung-paidia-im-gesprach-mit-kevin-mentz/. [29.03.2024 - 14:00]

Autor*innen:

Tobias Unterhuber

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema "Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht". Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.