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Sammelband »I’ll remember this«

Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel

Mit Beiträgen von
Franziska Ascher, Raphael Stübe, Matteo Riatti, Carsten Lange, Andreas Schöffmann, Martin Hennig, Hiloko Kato, René Bauer, Nina Köberer, Patrick Maisenhölder, Matthias Rath, Maria Kutscherow, Tobias Eder, Robert Baumgartner, Julian Reidy, Markus Engelns, Marcel Schellong und Tobias Unterhuber.

Sie können das Buch seit dem 10.06.2016 sowohl über den Verlag als auch über AmazonBuchhandel.deBuecher.de und natürlich in jeder Buchhandlung bestellen.

Der Decision Turn

Entscheidungen sind und waren immer schon ein (medien-)konstitutives Merkmal von (Computer-) Spielen. In den letzten zehn Jahren aber, so die These hinter »I’ll remember this«, haben sie das Entscheidungsprinzip für sich neu entdeckt und betonen seitdem in ungekanntem Ausmaß die Be­deutung von Entscheidungen, indem sie diese in komplexe Erzählungen einbetten, sozial und ethisch verankern und ihre Konsequenzen ins Zentrum der Spiel-Erfahrung rücken – ein Phänomen, das hier unter dem Schlagwort Decision Turn verhandelt wird.

Im Gegensatz zu den ökonomisch optimierbaren Entscheidungen, bei denen es nur galt, die ‚richtige‘ Lösung zu finden, die mit maximalem ludischen oder manchmal auch narrativen Payoff belohnt wurde, kann die Frage heutzutage schon einmal „Bacon omelette or Belgian waffle?“ lauten – und das nur im günstigsten Fall: SpielerInnen werden Gewissens­­entscheidungen abverlangt, sie werden unter (Zeit-) Druck gesetzt, mit (moralischen) Dilemmata konfrontiert und bekommen zum Lohn für ihre Mühen eine bunte Palette unterschiedlicher Schrecken als Konsequenzen ihrer Entscheidung präsentiert.

Machen Spiele so noch Spaß? Oder gewinnen sie an Tiefe, weil sie plötzlich auch existentielle Probleme thematisieren und die SpielerIn auf ganz eigene Art involvieren? Die Beiträge in »I’ll remember this« wollen Antworten auf solche Fragen geben, indem sie das Was, Wie und Warum von Entscheidungen in gegenwärtigen Computerspielen beleuchten.

Die Herausgeber sind Mitglieder der Redaktion von PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung.

Clementine will remember this (Quelle: eigener Screenshot)

Entstehung des Sammelbandes

Die Entscheidung zur Herausgabe dieses Sammelbandes trafen wir auf der Klausurtagung des Münchner Kolloquiums Game Studies und Kultur­wissen­schaften 2014. The Wolf Among Us  (2013) stand passend zum Schwerpunkt der Tagung als Abendgestaltung im Sinne eines Close-Reading auf dem Programm. Die Frage, wer gerettet werden sollte – der Prinz oder der Frosch? – zeigte nicht nur, wie unterschiedlich die Meinungen über und Begründungen für die ‚richtige‘ Entscheidung sein, sondern auch, wie stark Vorwissen und subjektive Gewichtung von Informationen die eigene Entscheidung beeinflussen können. Wenn wir uns an unsere Spielerlebnisse erinnern, sind es bestimmte Momente, an denen sich unsere Erinnerung orientiert und die wir in Gesprächen mit anderen teilen. Wie hast du denn den Endboss besiegt? Wie hast du dich gegenüber NPC XY verhalten? Hast du den einen oder den anderen Weg gewählt? Deshalb sind es, sowohl im persönlichen als auch akademischen Dialog, vor allem die Momente des Entscheidens, die wir erinnern und mit anderen teilen, sagen sie doch, frei nach dem Wandspruchvon Delphi, mehr über die Person als über das besprochene Medienereignis aus, wie wir auch auf unserer Klausurtagung beim Weiterreichen des Controllers beobachten konnten. Und so soll der Titel des vorliegenden Sammelbandes – „I’ll remember this“ – nicht einfach als eine spielerische Abwandlung des wohl elementarsten Satzes aller neueren Telltale-Spiele verstanden werden, sondern betonen, dass die Momente der Entscheidung in Spielen nicht nur von den betroffenen Figuren erinnert werden, sondern eben auch von uns.

Entscheidungen sind allerdings kein Phänomen neuester Spiele, sondern stellten – eine möglicherweise ernüchternde, aber nicht unerwartete Erkenntnis – schon immer einen wesentlichen Aspekt von Computer­spielen dar: egal, ob wir über Pacman  (1980), Call of Duty  (2003 bis heute) oder The Walking Dead  (2012) sprechen. Es ist die große Frage nach dem „Wie“, die unser Denken über Spiele bestimmt und damit klarmacht, dass Computerspielen immer schon und nicht nur im Feld der Wissenschaft als prozedurales Handeln gilt. Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre kann allerdings eine gewisse Veränderung bezüglich der Entscheidungs­situationen festgestellt werden – nicht nur in der Quantität der neu erscheinenden Spiele, die mit dem Feature der Entscheidung werben, sondern vielmehr in der Funktion und der Operationalisierung, vor allem aber der Inszenierung von Entscheidungen in Computerspielen (sowohl im Spiel selbst als auch in seinen Paratexten). So soll dieser Sammelband den Spuren dieser Veränderung, dem Decision Turn, auf vielfältige Art nachspüren.

Kurzabstracts der Beiträge

Franziska Ascher zeichnet das Fortschreiten des Decision Turns anhand der Witcher-Reihe (2007/2011/2015) in Relation zu zeitgleich erschienenen entscheidungsbasierten Titeln nach, um anhand dieses ‚decision turn in a nutshell‘ Charakteristika der verschiedenen Phasen der im Überblicks­artikel beschriebenen Entwicklung herauszuarbeiten und zu prüfen, ob die Witcher-Reihe dabei Repräsentativität für sich in Anspruch nehmen kann.

Raphael Stübe rückt aus genrehistorischer Perspektive das Phänomen Zeit (gerade auch in seiner Manifestation als Zeitdruck) im Adventure in den Fokus – von den eher statischen Zeitkonzepten klassischer Point-And-Click-Adventures über die Simulation beschleunigter Temporalität im Telltale-Adventure bis hin zu den zyklischen Zeitstrukturen von Life Is Strange  (2015) – und postuliert letztlich eine semantische Affinität des Genres zur Entschleunigung, zu der es mit Life Is Strange wieder zurückgefunden hat.

Matteo Riatti widmet sich mit Deus Ex (2000) als Hypertext dem Vorher des Decision Turns aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Im Zentrum der Untersuchung steht die semantische Tiefenstruktur des Videospiels, die sich sowohl aus seiner gegebenen Textualität als auch seiner Medialität zusammensetzt.

Carsten Lange legt eine Detailanalyse der BioShock-Reihe (2007/2010/2013) als einer äußerst autoreflexiven Spielserie an der Schwelle des Decision Turns vor, die ihre eigene Spielstruktur und das Funktionsprinzip von ­Computerspielen im Allgemeinen kommentiert, und stellt dabei die Grundfrage nach dem Verhältnis von Freiheit und Determinismus.

Andreas Schöffmann plausibilisiert die These des Decision Turns anhand der Computerspiele Baldur’s Gate 2 (2000) und Mass Effect (2007–2012) von Bioware sowie The Walking Dead  (2012–2014) von Telltale Games. Dabei wird unter Verwendung der Systematik der Spieltheorie eine Betrachtung der Simulation von sozialer Interaktion als Betrachtungsgrundlage verwendet.

Martin Hennig erstellt basierend auf der Raumsemantik Jurij M. Lotmans eine Typologie von Entscheidungssituationen und den Funktionen seriellen Erzählens in aktuellen Episodenspielen am Beispiel von Game of Thrones – A  Telltale Game Series (2014), um den Zusammenhang zwischen Episode und Entscheidung zu beleuchten.

Hiloko Kato und René Bauer untersuchen die Reaktion von Spielern auf spielinduzierte Kontrollillusion und Kontrollverlust im Kontext von markierten und prozeduralen Entscheidungen unter dem Schlagwort des ‚Spielers als Marionette‘ anhand von transkribierten Ausschnitten von Let’s Plays zu einer Vielzahl an Spielen.

Nina KöbererPatrick Maisenhölder und Matthias Rath verstehen Narrativität als eine kommunikative Dimension des Ethischen, was das Computer­spiel sowohl zu einem Medium der ethischen Reflexion als auch zu einem Medium für die ethische Reflexion macht, und bauen darauf ihre Analyse von Wertangeboten in digitalen Spielen und der Rezeption dieser Werthaltungen vonseiten der Rezipienten auf.

Maria Kutscherow betrachtet Entscheidungssysteme in (post-) apokalyptischen und katastrophischen Computerspielen in Anlehnung an Hans-Joachim Backes Modell der Kategorisierung von Einflussnahme der Spielerin auf die Diegese. Das Setting der (Post-) Apokalypse und Katastrophe fungiert bei derartigen Spielen als Bühnenbild der Inszenierung von moralischen bzw. ethischen Entscheidungen, deren Härte vor einem anderen Hintergrund als vor dem unbarmherzigen Kampf ums Überleben sich kaum rechtfertigen lassen könnte.

Tobias Eder wendet sich in seinem Beitrag den Strategiespielen zu und untersucht die zentralen Paradigmen der Entscheidungslenkung innerhalb des Genres. Der Beitrag beobachtet darauf‌hin eine Infragestellung dieser Prinzipien in den Spielen King of Dragon Pass (1999), Divinity: Dragon Commander (2013) und Democracy 3 (2013) durch die Integration expliziter Entscheidungsmomente in den Spielablauf.

Robert Baumgartner spürt einer bislang kaum beachteten Realisierungsstrategie des Decision Turns nach: Die sogenannte prozedurale bzw. substrukturelle Entscheidungslogik, die in Titeln wie Silent Hill 2 (2001), S.T.A.L.K.E.R. (2007) und Metro 2033 (2010) vorzufinden ist, bewertet die ­Entscheidungen von Spielenden auf Basis der – oft zugunsten makrostruktureller Entscheidungsmomente ignorierten – substrukturellen Alltags­aktivitäten von Spielen­den, die detailliert aufgezeichnet und schließlich zur Grundlage radikal unterschiedlicher Spiel-Enden werden: Alles, was Spieler tun, kann hier für das Ende relevant sein.

Julian Reidy wählt einen narratologischen Zugang, um zu zeigen, dass sich das Moment der Entscheidung nahtlos in ein Modell des Computerspiels integrieren lässt, welches das Medium als ‚semiotisch heißes‘ Erzählspiel im Sinne Albrecht Koschorkes konzeptualisiert, und setzt sich mit den Paradoxien auseinander, welche Entscheidungssituationen in Computerspielen unweigerlich mit sich bringen.

Markus Engelns beschreibt aus ökonomischer Perspektive die Vorgeschichte des Decision Turns, beginnend mit dem Begriff der Virtual Reali­ty, über den Mitte der 1990er auf‌kommenden Interaktivitätsbegriff, der die Verheißungen digitalen Spielens eingrenzte, um wieder glaubwürdig zu erscheinen, aber im Zuge der technischen Weiterentwicklung des Mediums seine Signifikanz einbüßte, bis hin zum Begriff der Entscheidungsfreiheit als vorläufigem Endpunkt dieser Diskursverschiebung, und entlarvt letztere damit bis zu einem gewissen Grad als Marketingstrategie.

Marcel Schellong blickt auf die autoreflexiven Verfahrensweisen von The Stanley Parable (2013) und auf die Paradoxien, die sich ergeben, wenn Entscheidungen und diejenigen, die sie treffen, miteinander verwechselt werden. Und weil Entscheidungen auch noch ein ganz zentraler Gegenstand dieses Spiels sind und es mindestens zwei rivalisierende Entscheidungs­instanzen gibt, spielen Fragen um Macht und Kontrolle und die Lust an der Subversion eine wichtige Rolle.

Tobias Unterhuber schließlich setzt sich mit dem Zusammenhang von Coming of Age-Erzählung und Zeitreisen in Life Is Strange (2015) ausein­ander, wobei er argumentiert, dass Medien, allen voran die Fotografie, immer schon Möglichkeiten des Zeitreisens und der Neu-Interpretation des Vergangenen  bieten, die nun in Life Is Strange als reale Zeitreise umgesetzt werden und damit als Reflexion auf die Medien zugeschriebene Macht gelten können.

Das Buch ist direkt beim Verlag Werner Hülsbusch, bei AmazonBuchhandel.deBuecher.de und natürlich auch bei der Buchhandlung Ihres Vertrauens erhältlich.

© 2024 Paidia - Zeitschrift für Computerspielforschung (ISSN: 2363-5630)
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