Immersion - Die Faszinationskraft virtueller Welten

27. August 2012

Immersion, beziehungsweise das metaphorische 'Eintauchen' in eine fik­tio­nale Welt, beschreiben zu wollen, wäre müßig, denn jeder, dem der Ge­brauch von Medien vertraut ist, dürfte dieses Gefühl kennen. Deswegen nur kurz eine persönliche Erfahrung. Obiger Screenshot stammt aus The Elder Scrolls V – Skyrim, das 2011 er­schien und das mich in besonderem Maße in seinen Bann gezogen hat. Inzwischen habe ich knapp 170 Stunden in dieses Spiel investiert und einen langen Artikel (siehe "Heldenkarrieren" ) darüber geschrieben, aber eine Fra­ge bleibt immer noch ungeklärt: Was fesselt mich - und viele andere Spie­ler - an Skyrim so? Wenn ich also im Rahmen dieses Beitrags danach frage: 'Was ist Immersion?' So frage ich nicht zuletzt auch nach der Faszinationskraft von Skyrim.

 Die Theorie der Immersion

Die Theorie der Immersion ist keine sonderlich einheitliche Theorie, aller­dings besteht die Problematik erstaunlicherweise nicht, wie so oft, darin, den Begriff zu definieren. Die meisten Theoretiker dürften der Definition von Lars Zumbansen, Immersion sei die „illusionistische Partizipation des Sub­jek­tes an einer dargestellten Welt [...] im mediaten Modus“ 1, wohl im We­sent­li­chen zustimmen. Die größere Frage ist, was man alles unter diesem Begriff subsumieren möchte; ob man tatsächlich nur von einer Immersion oder gar von mehreren reden möchte.

Dieser Beitrag baut in vielerlei Hinsicht auf dem Immersionsmodell von Jan-Noël Thon auf, das 2007 in „Medien. Zeit. Zeichen.“ veröffentlicht wurde 2. Obwohl dieser Aufsatz manches unkommentiert lässt, was eigentlich einer näheren Erläuterung bedürfte und das Fazit einen Großteil der zuvor ge­won­ne­nen Erkenntnisse wieder relativiert, besitzt seine Argumentation eine Strukturiertheit, die viele andere Texte zum Thema Immersion vermissen lassen und eignet sich daher gut als Basis für weiterführende Überlegungen.

Bei der Auseinandersetzung mit diesem Modell wird es zunächst darum geh­en, die Trennung von narrativer und ludischer Immersion, die bei Thon eher gewohnheits­mäßig als reflektiert stattfindet, theoretisch zu recht­fer­ti­gen, wobei ich das Potential, beim Spielen Angst zu empfinden, als wichtigen Indikator ansehe. Ist das gelungen, sind dem Modell Thons folgend noch zwei weitere Immersionsarten zu verhandeln, die ich zuerst kritisch be­leuch­ten und dann in neue Beziehung zueinander setzen werde.

 Immersionskategorien nach Jan-Noël Thon

Thon unterscheidet vier Kategorien von Immersion: räumliche, ludische, narrative und soziale Immersion, welche nicht nur beschreiben, durch welche Elemente von Computerspielen Immersion hervorgerufen wird, sondern bei denen es sich zugleich um „Perspektiven [handelt], aus denen Computerspiele beschrieben werden können“ 3.

Räumliche Immersion kann als „Verlagerung der Aufmerksamkeit des Spie­lers von seiner unmittelbaren Umgebung auf die [...] ihm über den Avatar zugänglichen Schauplätze [des Computerspiels] verstanden werden“ 4 und entspricht Thon zufolge dem, was die meisten Forscher – namentlich nennt er Marie-Laure Ryan – allgemein unter dem Begriff 'Immersion' ver­stehen.

Ludische Immersion meint die „Verlagerung [...] der Aufmerksamkeit auf die Steuerung des Avatars und die Interaktion mit dem Schauplatz und seinem Inventar“ 5.

Narrative Immersion bezeichnet bei Thon die „Verlagerung der Auf­merk­sam­keit des Spielers auf den Fortgang und die Figuren der Ge­schich­te“ 6, wobei er die narrative Immersion noch einmal in eine tem­po­ra­le Kom­po­nen­te, die mit dem „Entstehen von Spannung“ 7 zusammenhängt, und in eine emotionale, welche für Empathie zuständig ist, untergliedert.

Soziale Immersion schließlich ist auf die „Kommunikation und Interaktion der Spieler untereinander“ 8 bezogen. Wie man sich leicht vorstellen kann, kommt soziale Immersion nur vor, wenn mehr als ein Spieler am Spiel be­tei­ligt ist, d.h. in Onlinespielen oder in Spielen, die neben einer Single­player-Kampagne auch über einen Multiplayer-Modus verfügen.

 Ludische Immersion

Mich interessiert nun allerdings zunächst nur die ludische Immersion, denn Thon lässt in seinem Fazit die interessante Bemerkung fallen, dass sich lu­di­sche Immersion wahrscheinlich auch mit Hilfe des Flow-Begriffs des un­ga­risch-amerikanischen Psychologieprofessors Mihaly Csikszentmihalyi 9 be­schreiben ließe. Diese Annahme ist nicht gänzlich unproblematisch, doch wenn ludische Immersion tatsächlich dasselbe wäre wie Flow, so wäre das eine praktische Sache, da Csikszentmihalyi Flow viel genauer definiert als Thon seine diversen Immersionsarten. Eigentlich handelt es sich bei Flow ja, im Gegensatz zur medialen Theorie der Immersion, um ein psychologisches Konzept. Da Thon selbst darin allerdings kein Problem zu sehen scheint, wer­de ich im Folgenden probehalber Flow und ludische Immersion gleich­setzen.

Flow bedeutet gemäß Mihaly Csikszentmihalyi:

  • die vollkommene Einheit von Handeln und Bewusstsein
  • Selbstvergessenheit
  • Verlust des Zeitgefühls
  • Freiheit von Angst

Prinzipiell kann Flow bei jeder beliebigen Tätigkeit auftreten, und ich betone hier Tätigkeit, denn Flow kann nicht passiv erlebt werden. Er setzt eine wie auch immer geartete Aktivität voraus. Von diesen Aktivitäten gibt es al­ler­dings einige, wie zum Beispiel das Spielen von Computerspielen, die das Ent­stehen von Flow be­sonders begünstigen.

Merkmale typischer Flow-Aktivitäten:

  • Rahmen, bzw. ein Stimulusfeld, in dem sich die Aktivität abspielt
  • klares Ziel
  • Gleichgewicht der Anforderungen und des Können des Spielers
  • Feedback
  • selbstzweckhaft / autotelisch

Computerspiele verfügen über eine besonders deutliche Rahmung, denn der Aktionsradius des Avatars ist auf die virtuelle Spielwelt oder, wenn man so will, den Bildschirm beschränkt. Klare Ziele sind meist durch Quest-Struk­tu­ren gegeben. Aktuell geht der Trend in der Computerpielbranche eher zu Spielen, deren Schwierigkeit (teilweise sogar mitten im Kampf, wie beispielsweise bei The Elder Scrolls V – Skyrim oder The Witcher 2) an­ge­passt werden kann. Hintergrund hierfür ist es, ein möglichst optimales Spiel­klima für das Entstehen von Flow zu schaffen, denn das ist es, was Csikszentmihalyi mit dem Untertitel seines Werkes „Das flow-Erlebnis. Jen­seits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen“ („Beyond Boredom and Anxiety“) meint: Wenn die Anforderungen zu hoch sind, entsteht Ver­sa­gens­angst, sind sie aber zu niedrig, kommt schnell Langeweile auf. Flow, be­zieh­ungs­weise das „im Tun aufgehen“ besteht in dem schmalen Grat da­zwi­schen. Darüber hinaus geben Computerspiele stets eindeutiges Feed­back – beispielsweise durch Quest-Belohnungen oder auf einer ganz elementaren Ebene durch den Tod des Avatars. Und natürlich sind Computerspiele im strengen Sinne unproduktiv und somit autotelisch motiviert.

Abb. 1: Kampf mit einem Zweigling

So weit, so gut. Jetzt könnte man allerdings fragen: Reicht das nicht schon? Wozu noch drei andere Arten von Immersion? Wie ich ja gerade gezeigt habe, lässt Csikszentmihalyis Flow-Konzept sich im Ganzen wunderbar auf Computerspiele anwenden, an einem Punkt treten jedoch nichtsdestotrotz Irritationen auf:

Darf man für das ultimative Spielerlebnis keine Angst haben?

Eine schwierige Frage, denn zum Einen sehe ich selbstverständlich ein, dass Angst das vollkommene Aufgehen in einer Tätigkeit – Immersion? – ver­hin­dert, da Angst die Konzentrations­fähigkeit stört. Andererseits bin ich aber der Ansicht, dass Angst ein wesentlicher Bestandteil vieler Com­pu­ter­spie­le ist. Ganze Genres würden nicht existieren, wenn Angst im Com­puter­spiel nicht vorgesehen wäre. Es hätte beispielsweise nie ein Silent Hill gegeben.

Man stelle sich folgende Situation vor: Eben klappert man noch friedlich die Händler in der Hauptstadt ab, doch plötzlich verändert sich die Musik, die Luft erzittert und das Brüllen eines Drachens ertönt. Man hat gerade noch Zeit, einen Schutzzauber zu sprechen und sich ein paar Meter zu­rück­zu­zieh­en, doch da landet der Drache schon krachend auf der Stadtmauer und steckt die umliegenden Häuser in Brand.

Aber ist nicht – unabhängig davon, ob ein abgebrühter Spieler bei einem Skyrim-Drachen überhaupt noch nennenswerte Emotionen verspürt – die eigentlich interessante Frage: Zerstört es das Spielerlebnis, wenn er in dieser Situation in Panik gerät?

Zwar stört der Tod des Avatars die Immersion, da er in Clive Fencotts Ka­te­gorie der perzeptiven Schocks fällt 10, aber die panische Reaktion auf den Drachenangriff an sich tut der Immersion keinen Abbruch. Eher das Ge­gen­teil ist der Fall: Gerade in Momenten wie diesem ist der Spieler voll­kommen eins mit seinem Handeln, und er erfährt die maximale Annäherung an die Identität seines bedrohten Avatars. Und doch befindet sich der Spieler nicht im Flow, denn er hat die Kontrolle über die virtuelle Situation verloren. Flow ist also rein kategorisch ausgeschlossen, denn mit Flow geht unvermeidlich ein Gefühl der Kompetenz einher.

Ob Flow und ludische Immersion nun tatsächlich dasselbe sind, ist eine nur schwer zu klärende Frage, da Thon der ludischen Immersion nur wenige klärende Zeilen widmet, während Csikszentmihalyi seinen Flow-Begriff in mehreren Monografien mit zahlreichen Beispielen illustriert. In meinem Verständnis beziehungsweise in meiner Version von ludischer Immersion unterscheiden sich Flow und ludische Immersion allerdings in wenigstens einem Punkt: Anders als für Csikszentmihalyis Flow scheint mir für ludische Immersion nicht der Tätigkeitsbezug das Entscheidende.

Auch das fiebrige Brüten eines Rollenspielers darüber, in welche Richtung er seinen Avatar weiterentwickeln soll, ist für mich ludische Immersion, ob­wohl der Spieler dabei keine konkrete Tätigkeit ausführt, ja oft nicht einmal am Computer sitzt, sondern lediglich für das weitere Spiel plant. Auch das sogenannte Micro­management (Kauf und Verkauf von Aus­rüs­tungs­ge­gen­stän­den, Anweisungen an NPC-Mitstreiter etc.) findet unter dem Oberbegriff der ludischen Immersion seinen Platz – zumindest, wenn es den Spieler so zu fesseln vermag, wie man es bei Immersion voraussetzen darf. Allerdings umfasst ludische Immersion nicht nur Vorbereitung auf Kämpfe, sondern in erster Linie die Kampfsituationen selbst, die ja einen wesentlichen Teil des Spiels ausmachen: Die Vertrautheit mit der Steuerung des Avatars, im rich­ti­gen Moment Tränke nehmen oder Drachenschreie einsetzen, das Ge­fah­ren­po­ten­tial eines Gegners (wie beispielsweise des Zweiglings auf der Ab­bil­dung) rich­tig einschätzen, sein Angriffs­reper­toire kennen und sich schlimms­tenfalls ein Stück zurückziehen. Jede narrativ irrelevante Aus­ein­ander­set­zung mit den Inhalten des Computerspiels kann potentiell zu ludi­scher Immersion führen.

Obwohl ludische Immersion also nicht dasselbe sein kann wie Flow, teilen sie zweifellos eine Reihe von Eigenschaften, zu denen vor allem das Gefühl der Kompetenz sowie die Freiheit von Angst gehören. In der beschriebenen Spielsituation ist ebenso wenig Flow wie ludische Immersion möglich - wohl aber narrative Immersion.

 Narrative Immersion

Die von dem Drachen ausgehende Gefahr ist nicht real. Der Spieler selbst ist nicht bedroht. Natürlich ist es denkbar, dass der Spieler um seinen Avatar fürch­tet, doch selbst die Bedrohung des Avatars ist relativ, denn wenn er stirbt, kann sein Tod mühelos durch Neuladen des Spiels ungeschehen ge­macht werden. Dem Spieler entsteht kein oder nur ein geringfügiger spie­leri­scher Schaden durch den Tod des Avatars. Seine Angst ist also nur in­ner­halb der Diegese funktional, in der es kein Neuladen gibt und der Tod end­gültig ist. Auf dieser Ebene fürchtet der Spieler ebenso um den Avatar wie um sich selbst, denn im Zuge eines empathisch-mimetischen Aktes IST er der Avatar.

Dass es sich tatsächlich um Angst und nicht etwa um Furcht handelt, lässt sich daran erkennen, dass die Emotion zwar auf ein konkretes Objekt (den Drachen) bezogen zu sein scheint, jedoch irrational und zu einem gewissen Teil abstrakt bleibt, da der Drache virtuell ist.

Abb. 2: Der Drache Odahviing bei der Belagerung der Stadt Einsamkeit

Zwar ist die Emotion, die der Spieler in dieser Lage empfindet, nicht mit der Furcht eines Menschen, der sich tatsächlich in einer lebensbedrohlichen Si­tuation befindet, zu vergleichen, doch darf man nicht den Fehler machen, die vor dem Bildschirm empfundene Angst auf einen schwachen Abklatsch des 'echten' Gefühls zu reduzieren. Die Emotion, von der ich spreche, ist po­tentiell stark genug, um rationales Handeln zu blockieren - beispielsweise wenn der Spieler in dem hoffnungslosen Versuch, die Kontrolle über eine Situation zurückzugewinnen, schneller auf die Tastatur einhämmert, als sein Avatar die Flut der Befehle ausführen kann oder gar innerhalb einer Film­sequenz zu steuern versucht, ohne sie als solche zu erkennen.

Die Angst ist in diesem Kontext zu allererst ein 'Angsthaben wollen'. Im­mer­sion ist „keine Eigenschaft des Computerspiels, sondern ein Effekt [...], den dieses Spiel im Spieler produziert“ 11. Das heißt, der Spieler kann weder zur Im­mer­sion gezwungen werden, noch erlebt er automatisch Immersion, wenn er ein bestimmtes Spiel spielt. Ohne eine gewisse Bereit­schaft seiner­seits ist Immersion ausgeschlossen, und diese Bereit­schaft schließt auf der narrativen Ebene mit ein, sich vor einem übermächtigen Gegner zu fürchten. Gelingt dieser empathisch-mimetische Akt, kommt es also zu narrativer Im­mer­sion, so wird aus dem 'Angsthaben wollen' ein faktisches Angsthaben. Die empathisch nachvollzogene Angst des Avatars wird zur eigenen.

Angst macht also ludische Immersion unmöglich, jedoch kann an dieser Stel­le narrative Immersion die ludische ersetzen. Damit wäre die Trennung von ludischer und narrativer Immersion begründet. Zwar kann das Auf­tre­ten von Angst in der Praxis nicht wirklich als Prüf­stein dienen, denn wenn der Spieler Angst vor einem über­mächtigen Gegner empfindet, bedeutet das zwar, dass keine ludische Immersion vorliegen kann, jedoch gilt umgekehrt nicht: Wenn der Spieler keine Angst hat, ist es ludische Immersion. Dennoch sind die Argumente auf theoretischer Ebene funktional.

 Räumliche Immersion

Eng mit der narrativen Immersion verknüpft ist die räumliche Immersion. Für Lars Zumbansens Geschmack sogar zu eng, denn er kritisiert, dass Thons Trennung der räumlichen Immersion von der narrativen nur schwer nach­zu­voll­ziehen sei, „da Erstere doch überhaupt nur vor dem Hintergrund einer dargestellten, paradigmatischen Weltordnung denkbar wird, welche nar­ra­ti­ve Handlungsepisoden als erklärungs- und/oder lösungs­bedürftig bzw. als diegetisch funktionalisiert ausweist“ 12. Dem ist zuzustimmen, al­ler­dings halte ich die Trennung von räumlicher und narrativer Immersion trotzdem zunächst für die bessere Lösung.

Einer der vielen Gründe, warum man so viel Zeit mit Skyrim verbringen kann, ist die gigantische Spielwelt, die zur Erkundung einlädt – und viele Spie­ler tun das bis zum Exzess. Ohne irgendeine Quest, ja selbst ohne In­te­res­se an einer Quest, durchstreifen sie die Weiten von Himmelsrand. Sie betreiben Paidia, eine Form des freien Spielens, das primär auf die Er­for­schung der Umwelt und ihrer Möglichkeiten hinausläuft. 13 Freies Spielen, das von der Spielmechanik durch nichts belohnt wird und deswegen in­trin­sisch belohnt sein muss. Mit anderen Worten: Durch Immersion.

Ludische Immersion ist unwahrscheinlich, da das ziellose Durchstreifen der Spielwelt ja keinem expliziten Zweck dient, da es keine Anforderungen an das Können des Spielers stellt und das Spiel, wie gesagt, auch kein positives Feedback gibt. Hätte ich nun nur zwei Arten von Immersion – ludische und narrative – zur Verfügung, würde ich zu dem Schluss kommen, dass in die­sem Fall narrative Immersion vorliegt, hätte aber gewisse Schwie­rig­kei­ten, das plausibel zu machen. Die Spielwelt eines Computerspiels verhält sich vergleichbar mit einer Landschaftsbeschreibung in einem Roman: Obwohl sie ereignislos ist und damit nicht direkt Teil der Narration sein kann, wird sie vom Rezipienten als Teil der Geschichte akzeptiert und ist als Schauplatz untrennbar mit ihr verbunden.

Während ihres Umherstreifens loten die Spieler gerne auch einmal die Gren­zen der Spielwelt aus, was typisch für Paidia ist. Was aber wollen sie da, wo laut Karte die Welt zu Ende ist? Geht es ihnen darum, das graue Nichts jen­seits der Spielwelt zu erblicken und damit einen End-of-the-World-Schock 14 zu provozieren? Keineswegs – sie versuchen einen Blick auf die Länder Morrowind, Cyrodiil oder Hammerfell zu erhaschen, die Schauplätze frühere Elder-Scrolls-Titel waren. Und die Entwickler geben sich keine Blö­ße: Man sieht ihn tatsächlich, wenn man von der richtigen Stelle aus nach Osten schaut – den großen Vulkan Vvardenfell, der im roten Jahr Morrowind verwüstete und tausende Dunkelelfen zur Flucht nach Himmelsrand zwang. Hier geht es ganz offensichtlich nicht darum, ein paar schlecht aufgelöste graue Zacken zu sehen – hier geht es um die Intertexte und die Narration von Skyrim. Genannte Zacken sind nämlich derart narrativ aufgeladen, dass ihr konkretes Aussehen vollkommen nebensächlich wird.

Abb. 3: Die Vulkaninsel Vvardenfell, wie sie in Skyrim enthalten ist

Hier liegt sowohl räumliche als auch narrative Immersion vor, und des­we­gen greift an dieser Stelle auch der Gumbrecht’sche Begriff vom äs­the­ti­schen Erleben 15, welcher durch eine Oszillation zwischen Präsenz und Bedeutung gekennzeichnet ist. Die räumliche Immersion als die unreflektierte Wahr­neh­mung des virtuellen Raumes nimmt dabei die Position der Präsenz ein, während die narrative Immersion über die narrative Aufladung der Gegen­stän­de die Bedeutungskomponente beisteuert.

Tatsächlich besteht also eine enge Kopplung zwischen räumlicher und nar­ra­tiver Immersion, da sie gemeinsam ästhetisches Erleben konstituieren können. Andererseits repräsentieren sie jedoch auch das unvereinbare Ge­gen­satz­paar von Präsenz und Bedeutung, welches immer nur als Oszillation und nicht als Vereinigung denkbar ist. Aus diesem Grund halte ich die von Thon vorgenommene Trennung auch trotz Lars Zumbansens Einwänden für zweckmäßig.

Räumliche Immersion besitzt darüber hinaus allerdings auch noch einen ludischen Pol. Denn die Spielwelt ist ja nicht nur Schauplatz der erzählten Handlung, sondern auch oder vielleicht sogar in erster Linie 'Spielbrett' für ludische Aktivitäten. An diesem Pol ist der Raum in erster Linie ein stra­te­gi­scher Raum – es ist nicht relevant, dass ich von meiner erhöhten Position aus eine wunderbare Aussicht habe, sondern nur, dass ich mir von dort aus ein Bild von potentiellen Gefahrenquellen machen kann.

Meiner Ansicht nach ist räumliche Immersion also keine gleichberechtigte Kategorie zu narrativer und ludischer Immersion, sondern ist vielmehr zwischen ihnen anzusiedeln und kann sich entweder dem einen oder dem anderen Pol annähern.

 Soziale Immersion

Selbiges gilt für soziale Immersion, allerdings ist diese als Kategorie etwas problematischer, da sie gemäß Thons Definition nur auf Spiele mit Multi­player-Komponente anwendbar ist und somit aus dem Rahmen fällt. Einer­seits erlaubt sie natürlich den analytischen Zugriff auf die sonst schwer zu erfassende Faszination, die Spiele wie World of Warcraft auf ihre Spie­ler­ge­mein­de ausüben, andererseits aber scheint mir ihr Potential damit noch nicht ausgeschöpft. Viel interessanter als die zwischenmenschliche Inter­aktion, welche ja kein Spezifikum des Computerspiels darstellt, könnte soziale Immersion im Bezug auf non-player-characters sein.

Die Kommunikation zwischen den Spielern eines Onlinerollenspiels ist immer außerhalb der Diegese des Spiels angesiedelt, selbst wenn ein Chat direkt in das Spiel integriert ist. Das Spiel ist zwar zumeist Gegenstand der Kommunikation, doch kann diese auch losgelöst vom Spiel stattfinden und nur die technischen Mittel des Spiels nutzen. Eine Kommunikation zwischen Spielern, die narrative Anklänge hat, ist allenfalls auf sehr konsequenten Rol­len­spielservern denkbar, doch auch hier entstehen ständig Brüche und die Kommunikation bleibt prinzipiell außerhalb der Spielwelt verortet.

Trotzdem könnte eine Kategorie der sozialen Immersion Aufschluss über die Funktion von NPCs geben. Von daher schlage ich vor, diese Kategorie da­hin­geh­end zu modifizieren, dass sie eben keine zwischen­menschliche Inter­ak­tion beschreibt, sondern die parasoziale Beziehung zwischen Spieler und NPC, die zwar naturgemäß einseitig bleiben muss, was der Spieler aber durch Vorstellungskraft zu kompensieren in der Lage ist.

Abb. 4: Weiblicher Spieleravatar (links) mit NPC-Begleiter Kharjo (rechts)

Ich hatte in Skyrim zum Beispiel über längere Zeit einen NPC-Begleiter na­mens Kharjo. Eigentlich sollten Begleiter einem im Kampf eine Un­ter­stüt­zung sein, doch für einen Magier sind Begleiter häufig eher eine Belastung, da sie allzu leicht den eigenen Zaubern des Magiers zum Opfer fallen. Ob­wohl Kharjo für meine Magierin also nur eine Belastung war, wollte ich, dass sie einen Artgenossen zur Gesellschaft hatte. Ich behielt den NPC also nicht aus praktischen, sondern aus rollenspieltechnischen oder man könnte auch sagen: sozialen Gründen.

Somit sind wir hier am narrativen Pol der sozialen Immersion.  Am lu­di­schen Pol der sozialen Immersion finden wiederum strategische Vorgänge statt: Beispielsweise der geschickte strategische Einsatz von NPC-Begleitern. In Skyrim ist diese Möglichkeit nicht sehr ausgeprägt, aber zum Beispiel in japanischen RPGs kann man den Begleitcharakteren oft sehr präzise An­wei­sung­en geben, wie sie sich im Kampf zu verhalten haben.

 Das Modell

Es gibt also stets einen narrativen und einen ludischen Pol. Räumliche und soziale Immersion changieren zwischen diesen beiden Polen, doch ist nicht gesagt, dass sie die einzigen sind. Prinzipiell wären in diesem Zwischenraum noch weitere Arten von Immersion denkbar.

Beispielsweise so etwas wie temporale Immersion. Am narrativen Pol ließe sich hier die bereits bei Thon vorhandene temporale Komponente der narrativen Immersion wiederfinden, die aktiviert wird, wenn narrative Ereignisse in hoher Frequenz aufeinander folgen und dadurch Spannung erzeugen 16. Währendessen würden sich am ludischen Pol beispielsweise temporeiche Kampfsituationen abspielen, die Handeln unter Zeitdruck erfordern. Doch sollte man Kategorien, die man neu hinzufügen möchte, immer auf potentielle Überschneidungen mit anderen Kategorien prüfen und ihre Notwendigkeit hinterfragen, um das Modell nicht unnötig zu überfrachten.

Die Verschiebung der Begriffe „narrative Immersion“ und „ludische Im­mer­sion“ an die Pole des Modells bedeutet wohlgemerkt nicht, dass sie sich ge­gen­seitig aus­schließen. Eine echte Gleichzeitigkeit ist allerdings sehr un­wahr­scheinlich, da sie die Konzentration des Spielers aufspalten würde, was wiederum die Immersion stören müsste. Es ist eher, wie schon anhand des Beispiels der räumlichen Immersion gezeigt wurde, von einer Oszillation auszugehen. Die Wahrnehmung des Spielers ist Schwan­kung­en un­ter­wor­fen, je nach dem, ob für ihn beispielsweise gerade der konkrete Kampf gegen einen Gegner im Vordergrund steht (ludische Immersion) oder ob er eben die möglicherweise tragische Vorgeschichte des Feindes memoriert (narrative Immersion).

 Funktion des Narrativen im Computerspiel

Sämtlichen Arten von Immersion ist gemeinsam, dass sie beim Spieler eine Art Rauschzustand auslösen, der sich physiologisch nicht unterscheidet, egal, ob die Immersion nun narrativ oder ludisch begründet ist. Roger Caillois 17 würde dies wohl als Illinx bezeichnen, und tatsächlich glaube ich, dass Illinx in gewisser Weise die wichtigste seiner vier Arten von Spie­ler­mo­ti­va­tionen ist.

Alea (Glückspiel) ist ja ohnehin etwas umstritten 18 und möchte ich daher an dieser Stelle vernachlässigen. Wenn aleatorische Elemente im Com­pu­ter­spiel auftauchen, so handelt es sich häufig um ein Spiel im Spiel. Mimikry (Rollenspiel) ist klar auf Seiten der narrativen Immersion an­ge­sie­delt und Agon (Wettstreit) tendenziell mehr auf der Seite der ludischen Immersion.

Illinx aber umfasst jegliche Art von Immersion und ist DER Grund, warum Computerspiele gespielt werden. Denn egal, ob wir nun eine Geschichte erleben wollen oder unsere spielerischen Fähigkeiten unter Beweis stellen wollen, wir suchen immer jenes Gefühl des rauschhaften Aufgehens im Virtuellen.

Wenn Illinx -  beziehungsweise Immersion - das Ziel jeglicher Com­pu­ter­spiel­tä­tig­keit ist, so wird klar, welche Funktion Narration im Computerspiel erfüllen kann: Sie eröffnet die Möglichkeit, dort Immersion zu erleben, wo ludische Immersion ausgeschlossen ist. Ein Spiel braucht keine Narration, weil ludische Immersion an sich bereits befriedigend ist, allerdings ver­dop­pelt der Einsatz von Narration die Chance Immersion zu erleben.

Narration stellt somit zwar keine Notwendigkeit, aber einen motivationalen Mehrwert dar.

Verzeichnis der verwendeten Texte und Medien

Spiele

Konami Computer Entertainment: Silent Hill 2 (PC). Konami 2001.

Bethesda Game Studios: The Elder Scrolls 5. Skyrim (PC). Bethesda Softworks 2011.

CD Projekt RED: The Witcher 2. Assassins of Kings (PC). CD Projekt; Namco Bandai; Atari 2011.

Texte

Callois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt am Main: Ullstein Verlag 1982.

Csikszentmihalyi, Mihaly: Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. Stuttgart: Klett-Cotta 2010.

Backe, Hans-Joachim (2008): Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.

Fencott, Clive: Virtual Storytelling as Narrative Potential: Towards an Ecology of Narrative. In: Balet, Subsol; Torguet (Hg.): Virtual Storytelling: Using Virtual Reality Technologies for Storytelling. Berlin: Springer Verlag 2001.

Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2004.

Thon, Jan-Noël: Immersion revisited. Varianten von Immersion im Computerspiel des 21. Jahrhunderts. In: Hißnauer, Christian; Jahn-Sudmann, Andreas (Hg.): Medien. Zeit. Zeichen. Beiträge des 19. film- und fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums. Marburg: Schüren Verlag 2007.

Zumbansen, Lars: Dynamische Erlebniswelten. Ästhetische Orientierung in phantastischen Bildschirmspielen. München: Kopaed Verlag 2008.

  1. Zumbansen 2008, S. 83.[]
  2. Thon 2007.[]
  3. Thon 2007, S. 127.[]
  4. Thon 2007, S. 127.[]
  5. Thon 2007, S. 128.[]
  6. Thon 2007, S. 129.[]
  7. Thon 2007, S. 129.[]
  8. Thon 2007, S. 129f.[]
  9. Csikszentmihalyi 2010.[]
  10. Fencott 2001.[]
  11. Thon 2007, S. 126.[]
  12. Zumbansen 2008, S. 83.[]
  13. Callois 1982, S. 36ff.[]
  14. Fencott 2001.[]
  15. Gumbrecht 2004.[]
  16. Thon 2007, S. 129.[]
  17. Callois 1982.[]
  18. Backe 2008, S. 237 - 277.[]

Schlagworte:

Spiele: 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Ascher, Franziska: "Immersion - Die Faszinationskraft virtueller Welten". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 27.08.2012, https://paidia.de/immersion/. [18.04.2024 - 23:18]

Autor*innen:

Franziska Ascher

Dr. Franziska Ascher studierte von 2008 – 2014 Sprache und Literatur des Mittelalters, Neuere Deutsche Literatur sowie Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte 2020 in der Germanistischen Mediävistik bei Prof. Dr. Michael Waltenberger zum Thema „Erzählen im Imperativ – Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen“. Seit 2021 ist sie Mitherausgeberin von PAIDIA und Post-Doc in der Germanistischen Mediävistik an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Dissertation: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5811-8/erzaehlen-im-imperativ/?c=310000018&number=978-3-8394-5811-2