Editorial 2018

1. Januar 0208

„We’re leaving politics at the door. Most of us have thoughts about politics. […] Politics are everywhere, but they don’t have to be everything. We’re going to focus on what’s fun, and we hope you’ll join us in that.“ (Escapist Magazine 2018)

„[The door] [d]oes not open from this side.“ (Dark Souls 2011)

Cyber-Biedermeier

Die sich selbst überlebende Vorstellung, Spiele seien rein dem Zweck des Spaßes, des ‚Funs‘ verschrieben, seien eben nur Spiel, birgt eine Gefahr. Die Vorstellung, Spiel hätte keine Auswirkungen nach Außen, wäre gar vollkommen von diesem Außen abgetrennt, verneint nicht nur den Platz, den Spiele als kulturelle Artefakte und (zentraler) Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen besitzen, sondern öffnet das Spiel gleichzeitig für eine Anreicherung mit Ideologeme und ‚großen Erzählungen‘, die von sich selbst behaupten, unpolitisch zu sein, um so einer kritischen Hinterfragung und Analyse zu entkommen.

Die eingangs zitierte Aussage des Escapist schlägt in genau diese Kerbe. Dabei spricht sie dem Computerspiel seine politische Bedeutung nicht eigentlich ab, offeriert aber die Vorstellung, es gäbe die Möglichkeit, den politischen Implikationen des Spiels zu entkommen (und sei es nur zeitweise), um so den eigenen durchaus kritisch zu betrachtenden Aussagen der Vergangenheit zu entkommen. Dies ist nichts anderes als eine Neuauflage politischer Haltungen des 19. Jahrhunderts, ist nichts anderes als Cyber-Biedermeier.

Die Epoche des Biedermeiers steht für ein angebliches politisches Desinteresse, das sich vom Status Quo Begünstigte leicht erlauben konnten, oder gar Politikverdrossenheit und den Rückzug ins Private. Dass dieser private Rückzugsort heute nicht mehr (nur?) das traute Heim mit dem wohlbestellten Garten ist, ändert daran nicht grundsätzlich etwas. Auf den ersten Blick scheinen die beschaulichen Landschaften und Innenansichten eines Biedermeiergemäldes wenig mit der Ästhetik eines Skyrims, PUBGs oder selbst eines Stardew Valleys gemein zu haben. Doch unter der Oberfläche ist der gleiche Mechanismus am Werk: Wohin beim Eskapismus der Rückzug stattfindet, ist sekundär. Primär ist der Akt, einer als unerfreulich empfundenen Wirklichkeit den Rücken zu kehren und sich einen vermeintlich unpolitischen Raum zu schaffen, der nur umso stärker politisch aufgeladen ist.

Denn die Augen zu schließen, lässt die Monster nicht verschwinden. Der Rückzug ins Private ist mindestens insofern politisch als er die Diskurshoheit jenen überlässt, die ihn nicht mitvollziehen. Eine solche Haltung mag für eine Privatperson noch angehen, auch wenn sie gesamtgesellschaftlich gesehen sicher nicht die wünschenswerte ist – eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung, mit welchem Medium auch immer, kann sich diesen Luxus jedoch nicht leisten, steht sie doch bereits in ihren Grundfesten dem entgegen.

Denn das Hinterfragen des Gegebenen, die entnaturalisierte Betrachtung von Kultur, das Durchleuchten ihrer Mechanismen und Strukturen, das Aufzeigen ihrer Funktionen und ihres Funktionierens sind zentrale Anliegen der Kulturwissenschaften. Dass Kultur dabei immer bereits sowohl Objekt der Untersuchung als auch der Grund ist, auf dem sich ihre Untersuchung bewegt, und somit unsicherer Grund ist, hat die Kulturwissenschaften umso mehr für ihre eigene Wahrnehmung und deren kulturelle Bedeutung sensibilisiert. Kulturwissenschaftliche Forschung bedeutet immer auch eine kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe und Bedeutung und besitzt damit eine politische Dimension. Dies gilt ebenso für die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung sowie für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Spiel im Allgemeinen, wie eine Anekdote aus der Frühzeit der damals noch analogen Spielforschung zeigen kann.

Huizinga versus Nazis

1933 setzte der Kulturhistoriker und Kulturwissenschaftler avant la lettre Johan Huizinga ein Zeichen. Bei einer internationalen Konferenz an der Universität Leiden lud er den Deutschen Johann von Leers zu einem persönlichen Gespräch über dessen antisemitische Veröffentlichung Forderung der Stunde: Juden raus ein. Er gab ihm die Chance, sich zu erklären, doch als Johann von Leers bei seinen Ansichten blieb, lud ihn Huizinga von der Konferenz aus und mit ihm die gesamte deutsche Delegation.

Seine Entscheidung wurde nicht nur vom Vorstand der Universität gerügt, sogar viele Kollegen kritisierten ihn. Von Leers selbst sprach bezeichnenderweise von einem Angriff auf die Meinungs- und Redefreiheit. Huizinga beharrte auf dem Ausschluss und stand zu seiner Entscheidung, womit er sich auf die Listen der Gestapo beförderte und sich ein Publikationsverbot in und ein Einreiseverbot nach Deutschland einhandelte. Letztlich geriet Huizinga in die Geiselhaft der Nazis und verstarb in Anschluss an seine Entlassung nach kurzer Krankheit 1945.

Seine Arbeit in diesen letzten Jahren beschäftigte sich mit der universalen Bedeutung des Spiels, kulminierend in seinem Werk Homo ludens im Jahre 1938.

Auf den ersten Blick scheint dieses Werk wenig mit Huizingas Widerstand gegen das Naziregime zu tun zu haben, allerdings war Spiel für Huizinga nie einfach ‚nur ein Spiel‘, sondern die Grundlage der Kultur – ein freiwilliges, regelgeleitetes Handeln, das erst Kultur, dann Zivilisation und schließlich einen zivilisierten Umgang unter Menschen ermöglicht. Huizingas Spieltheorie ist ein Aufruf gegen die Barbarei, das Diskriminierende, das Vernichtende und Zerstörende des Nationalsozialismus und des Faschismus. Das Spiel ist damit bereits bei Huizinga explizit der Träger einer politischen Haltung und dies nicht nur in seinem Inhalt, sondern schon in seiner Form.

Dies erklärt, warum es bei Debatten in der Gaming Community nie bloß um Spiele oder Spielende geht, denn Spiele sind stets der vorgelagerte Kampfplatz größerer kultureller Auseinandersetzungen.

Umweg statt Ausweg

Man möge hier entgegnen, dass Huizinga doch vom Zauberkreis des Spiels spricht, von seiner zeitlichen und räumlichen Herausgehobenheit aus der Alltagswelt. Ist dies nicht ein Plädoyer für das unpolitische Spiel, für die eskapistische Qualität der Betätigung des Spielens?

Eine solche Ansicht greift unserer Meinung nach jedoch zu kurz und versteht das Phänomen des Eskapismus‘ nur unzulänglich. Denn auch wenn Huizinga dem Spiel eine von der Realität abgetrennte Welt zuspricht, sieht er es eben nicht von Kultur und Gesellschaft abgekoppelt, sondern als eine zentrale Form von Kultur und Gesellschaft an, die als Kraft fast alle Bereiche des Lebens von der Bildung zur Religion, von der Liebe bis zum Krieg mitgestaltet. Dass der spielerischen Betätigung dabei auch eine eskapistische Qualität innewohnen kann, widerspricht dem nicht. Die Tür öffnet sich nicht von dieser Seite – aber das bedeutet nicht, dass sie nicht geöffnet werden kann. Sie zu öffnen erfordert allerdings einen Umweg.

Eskapismus ist keine unpolitische Haltung, sondern das punktuelle und ganz absichtlich praktizierte Entfliehen aus einer überkomplexen Realität in einen von der Kultur dafür vorgesehenen ‚einfacheren‘ Raum, ein kulturell konstruiertes Außen (das damit immer noch Teil von Kultur ist) wie die Natur, die Literatur oder auch das Spiel. Eskapismus ist also eine höchst politische Handlung. In vielen Situationen ist sie im Sinne von Self-Care notwendig, weswegen wir sie definitiv nicht verurteilen wollen. Nur dem, was der Escapist unter Eskapismus versteht, das Ausklammern der politischen und damit auch der kulturellen Bedeutsamkeit von Spiel, fehlt genau diese Reflexionsebene. Wer aber durch die Tür gehen und reflektiert mit Eskapismus (dem eigenen und dem anderer) umgehen möchte, muss den langen und beschwerlichen Weg wählen – doch wenn uns Dark Souls eines lehren kann, dann, dass sich nichts so sehr lohnt, wie sich der Herausforderung zu stellen.

Als kulturwissenschaftliche Zeitschrift sieht es PAIDIA weiterhin als seine Aufgabe an, das Computerspiel in seiner kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung zu erfassen und zu hinterfragen und statt Komplexität zu meiden, diese aufzuzeigen und zu analysieren. Dafür bedarf es natürlich auch Werkzeug, das uns unsere neu gestaltete Webseite zur Verfügung stellt.

Vorher - Nachher: PAIDIA 1.1 im Vergleich zu PAIDIA 2.0

Neuerungen unter PAIDIA 2.0

PAIDIA 2.0 hat nicht nur ein zeitgemäßes Layout, sondern auch eine Reihe an Funktionalitäten, die sich im Laufe der Jahre als wünschenswert herauskristallisiert haben.

An erster Stelle ist das neue responsive Design zu nennen: Ab jetzt kann man PAIDIA-Artikel ebenso gut auf dem Tablet oder Handy lesen wie am Computer.

Die Startseite ziert nun eine Slideshow, welche für die Sonderausgaben reserviert ist und wechselt, sobald es eine neue Sonderausgabe gibt. Der aktuelle Monatsartikel wird unabhängig davon direkt darunter angezeigt.

Abstracts sind nun nicht mehr Teil des Artikels, sodass sie von APIs auch als Abstracts erkannt werden und für Vorschauen, z.B. in den Google-Ergebnissen, genutzt werden können.

Bei der Verschlagwortung unterscheiden wir nun „Schlagwörter“ und „Spiele“. Die Schreibweisen der Spieltitel wurden vereinheitlicht und die Verschlagwortung auch rückwirkend durchgeführt, sodass nun sämtliche Artikel, die jemals zu einem Spiel auf PAIDIA erschienen sind, in einer Liste angezeigt werden können.

Außerdem kennt PAIDIA 2.0 echte Mehrfachautoren, sodass ein Text mit mehreren AutorInnen nun in der Artikelliste eines jeden Beteiligen erscheint. Die Viten aller AutorInnen werden alphabetisch geordnet am Ende des Artikels gelistet.

Manche Neuerungen sind technischer Natur. Doch PAIDIA 2.0 war auch Anlass für eine Reihe von Verbesserungen, die wir bereits unter PAIDIA 1.1 geplant und nun – motiviert und begünstigt durch die neue Website – durchgeführt haben.

Auf diese Weise wurden unzählige Artikel aus der Frühzeit von PAIDIA geprüft und überarbeitet, fehlende Literaturlisten, Abstracts und Bildunterschriften ergänzt, tote Links repariert, verrutschte Bilder neu platziert etc. etc.

Einen wissenschaftlichen Text bis zur Veröffentlichung zu begleiten, stellt einen nicht zu unterschätzenden Arbeitsaufwand dar, der selten wertgeschätzt wird, wenn nicht mindestens eine Herausgeberschaft damit verbunden ist. Diese Arbeit unserer Redakteure möchten wir mit einer Zeile unterhalb des Autornamens sichtbar machen, in welcher die Hauptverantwortlichen für den Aufsatz (und damit auch die Autorenkommunikation) bei „Erstkorrektur“ und der unterstützende Redakteur bei „Zweitkorrektur“ genannt wird.

Anlässlich der Sonderausgabe Vom ‚Wigalois‘ zum ‚Witcher‘ – Mediävistische Zugänge zum Computerspiel hat unsere Redakteurin Franziska Ascher das PAIDIA-Stylesheet grundlegend überarbeitet. Mit dem Ergebnis sind wir so zufrieden, dass wir das Stylesheet künftig unter „Hinweise für Autoren/-innen“ zum Download anbieten. An der Zitierweise selbst hat sich nichts geändert – das Stylesheet wurde lediglich neu strukturiert, ergänzt und klarer formuliert, um unsere AutorInnen optimal bei der Publikation zu unterstützen. Selbstverständlich werden wir das Stylesheet weiterhin kontinuierlich weiterentwickeln.

Stolz möchten wir außerdem verkünden, dass PAIDIA mit dem Umzug auf den LRZ-Server nun endgültig als offizielles LMU-Projekt anerkannt ist.

Auch dürfen wir erstmals einen externen Redakteur in unseren Reihen begrüßen: Florian Nieser von der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Zu guter Letzt danken wir noch Karina Oelmaier herzlich für die technische Umsetzung unserer hochfliegenden und teils sehr spezifischen Wünsche für PAIDIA 2.0. Auch wenn es nicht immer einfach war, hatte sie für alles eine Lösung, und war sofort zur Stelle, wann immer Probleme auftraten.

Des Weiteren danken wir unseren Redakteuren Franziska Ascher, Johanna Lindner, Florian Nieser und Tobias Unterhuber, ohne deren Engagement der Umzug auf die neue Webpräsenz nicht möglich gewesen wäre.

Im Namen der Redaktion

Franziska Ascher und Tobias Unterhuber

So zitieren Sie diesen Artikel:

Ascher, FranziskaUnterhuber, Tobias: "Editorial 2018". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 01.01.0208, https://paidia.de/editorial-2018/. [19.03.2024 - 09:53]

Autor*innen:

Franziska Ascher

Dr. Franziska Ascher studierte von 2008 – 2014 Sprache und Literatur des Mittelalters, Neuere Deutsche Literatur sowie Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte 2020 in der Germanistischen Mediävistik bei Prof. Dr. Michael Waltenberger zum Thema „Erzählen im Imperativ – Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen“. Seit 2021 ist sie Mitherausgeberin von PAIDIA und Post-Doc in der Germanistischen Mediävistik an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Dissertation: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5811-8/erzaehlen-im-imperativ/?c=310000018&number=978-3-8394-5811-2

Tobias Unterhuber

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema "Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht". Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.