Rezension: Forschungsdrang & Rollenspiel

18. Februar 2020

Donecker, Stefan; Fenböck, Karin; Kalniņš, Alexander und Klausner, Lukas Daniel (Hg.): Forschungsdrang & Rollenspiel. Motivgeschichtliche Betrachtungen zum Fantasy-Rollenspiel Das Schwarze Auge. Waldems: Ulisses Spiele GmbH 2019. 204 Seiten (DinA4), ISBN 978-3-96331-209-0, Preis 39,95€.

Das Computerspiel steht und stand nie monolithisch für sich, sondern ist in ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen verschiedensten Medien eingebunden. In diesem Kontext ist etwa die Medienkonvergenz mit dem Film zu sehen, aber auch die Wechselwirkungen zwischen digitalem und analogem Rollenspiel, die in etwa zeitgleich aufkamen, sich eigenständig fortentwickelten, aber immer wieder wechselseitig inspirierten. Game Studies umfassen mehr als nur digitale Spiele, daher lohnt sich der gelegentliche Blick auf Forschung zum analogen Spiel – zumal das traditionelle Pen&Paper-Rollenspiel mit Computerunterstützung und Online-Runden zunehmend auch in den digitalen Raum ‚hineinwuchert‘. Vor diesem Hintergrund ist auch die Rezension des vorliegenden Sammelbandes zu dem populären Pen&Paper-Rollenspiel „Das Schwarze Auge“ (DSA) auf PAIDIA zu sehen.

Nach mehreren Jahren, personellen Veränderungen in der Riege der HerausgeberInnen und einem Verlagswechsel konnte im dritten Quartal 2019 der lange ersehnte Sammelband „Forschungsdrang & Rollenspiel – Motivgeschichtliche Betrachtungen zum Fantasy-Rollenspiel Das Schwarze Auge“ erscheinen und zwar nunmehr im Ulisses Verlag, der auch DSA selbst verlegt. Dieser Verlagswechsel trägt nicht zuletzt der ambitionierten Zielsetzung der HerausgeberInnen Stefan Donecker, Karin Fenböck, Alexander Kalniņš und Lukas Daniel Klausner Rechnung: ein wissenschaftlicher Sammelband, der aber auch SpielerInnen erreichen, also aus dem sprichwörtlichen ‚Elfenbeinturm‘ heraustreten und gesellschaftlich relevant sein will.

Dies schlägt sich auch in der Auswahl der Beiträge nieder und so folgt unmittelbar auf die in das Thema einführenden Worte der HerausgeberInnen der Aufsatz von Tobias M. Scholz „Kulturelle Diversität von Abenteuergruppen als Wettbewerbsvorteil – Eine Analyse anhand des Competitive-Acceptance-Modells“ mit einem Plädoyer für die Diversität von Helden-, aber letztlich auch von Spielgruppen.

I. Narration und Verortung

Das erste Kapitel vereint drei durchaus heterogene Bereiche in sich. Den Anfang macht Sebastian Boltes Aufsatz „Die auszuerzählende Erzählung – Das Rollenspiel als narrative Gattung“ mit der Narratologie. Bolte leistet hier Grundlagenforschung, indem er die Terminologie Gérard Genettes unter Erweiterung des bestehenden Vokabulars für das Pen&Paper-Rollenspiel adaptiert, und kommt zu dem Schluss, dass Rollenspielstudien trotz ihrer alteritären Medialität durchaus einen Platz innerhalb der Literaturwissenschaft finden können.

Georg Koch & Annegret Heinrich gehen in „Das Spiel mit der Geschichte – Geschichte und Geschichtlichkeit in der Welt des Schwarzen Auges“ dem Postulat von der „lebendigen Geschichte“ Aventuriens nach und behandeln dabei die Anleihen, die DSA an der Epoche des Mittelalters oder, noch häufiger, an populäre Geschichtskonstruktionen derselben nimmt.

Lukas Schmutzer befasst sich in „Gor und Tamariskenhain – Räume des Rollenspiels und Orte Aventuriens“ mit der Frage nach den Gesetzmäßigkeiten von Räumlichkeit im Pen&Paper-Rollenspiel, wobei er betont, dass die Räumlichkeit des Rollenspiels von Konflikten, also agonal geprägt sei.

II. Aspekte aventurischer Gesellschaft

Das zweite Kapitel deckt die gesellschaftlichen Bereiche Rittertum, Geheimdienst und medizinische Versorgung ab.

Die Aufsätze von Bastian Gillner und Marc-André Karpienski „Heldenkaiser, Schwertkönige, Ritter ohne Furcht und Tadel – Aventurischer Adel als Geschichtsimitation und Geschichtsbildkonstruktion“ und „Wege des Ritters – Mittelaventurische Kriegsführung im Spiegel ihrer Vorbilder“ widmen sich beide dem Rittertum. Ersterer beschreibt die aventurische Adelskultur als simplifizierte Form des mittelalterlichen Lehenswesens: Aufgegriffen wurden laut Gillner vor allem kulturelle und soziale Praktiken, wohingegen Rechte, Pflichten und Verwaltungsaufgaben mittelalterlicher Adliger kaum angesprochen werden. Man habe es überwiegend mit Formen personaler Herrschaft bei weitgehendem Verzicht auf administrative Strukturen zu tun. Der zweite Aufsatz steht aufgrund von thematischen Überschneidungen etwas im Schatten des Vorangegangenen.

David Nikolas Schmidt kommt in „Aventurische Geheimdienste – Abbilder realer Spionageorganisationen?“ zu dem Schluss, dass die untersuchten aventurischen Geheimdienste trotz unterschiedlicher Ausrichtungen unzweifelhaft an modernen (nicht etwa historischen) Geheimdiensten beziehungsweise ihrer medialen Darstellung orientiert seien.

Oliver Overheu stellt in „Vom Leben in seinen natürlichen und übernatürlichen Formen – Aventurien im Spiegel der Medizingeschichte“ Bezüge zu realweltlichen (historischen) Theorien (namentlich der Humoralpathologie) her und kommt zu dem Schluss, dass das Potenzial der aventurischen Medizin (magisch, karmal, profan) zwar enorm sei, es aber an einem funktionierenden Gesundheitswesen mangle.

III. Philosophie und Ethik

Das dritte Kapitel beleuchtet verschiedenste Aspekte der Spielwelt Aventurien, die sich jedoch alle gut unter die Kapitelüberschrift „Philosophie und Ethik“ fügen. Der Aufsatz „Metaphysik, Magie und Moderne in DSA“ von Arne Vangheluwe bildet als der Beitrag mit der weitesten Perspektive einen guten Einstieg in das Kapitel. Seine Betrachtungen über den Kosmos, die Naturwissenschaften, Magie und Wunder in Aventurien münden in einer Erklärung der Popularität des Archetyps der Gildenmagierin, welche modernes Denken in einem prämodernen Setting verkörpere.

Wolfgang Sattler erklärt in „Zwischen Göttern und Dämonen – Paktierende aus Sicht der platonischen Seelenlehre“ die platonische Seelenlehre am Beispiels des Dämonenpaktes in DSA und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sich ein Seelenpakt aus platonischer Sicht nicht lohne, da er dem „guten Leben“ des Paktierers bereits im Diesseits im Weg stünde.

Patrick Körner lotet „Status und Potenziale der Aufklärung in Aventurien am Beispiel der Nanduskirche“ aus. Er stellt fest, dass es zu erstaunlich wenig Austausch zwischen den verschiedenen aventurischen Kulturen käme, der über Handelsbeziehungen hinausginge, was unter anderem einer Aufklärung nach irdischem Vorbild im Weg stehe.

Katarina Nebelin & Marian Nebelin stellen sich die Frage „Hat die Welt des Schwarzen Auges ein Demokratiedefizit?“ und untersuchen die „Politische Verfassungen und Praktiken Aventuriens im Spiegel antiker und moderner Demokratietheorien“. Sie kommen zu dem Schluss, „[d]ass in Aventurien lediglich einzelne demokratische Komponenten und Praktiken, nicht aber funktionierende demokratische Verfassungen“ (S. 142) realisiert seien, dass allerdings die meisten Rollenspielgruppen demokratisch geprägt seien.

Tobias Hainz und Philipp-M. Lang prüfen in „Die aventurische Chimärologie aus bioethischer Perspektive“ das Potenzial Aventuriens als nützliches Gedankenexperiment für die Bioethik und können so demonstrieren, dass Religion und Natur in ethischen Argumentationen häufig die gleiche Funktionsstelle einnehmen.

IV. Historische Perspektiven

Das vierte Kapitel ist mit seinem klaren geschichtswissenschaftlichen Schwerpunkt relativ homogen – nicht zuletzt, da sich die Beiträge von Johannes Walter und Martin Krieger „Römer in Aventurien? – Antikenrezeption im Rollenspiel Das Schwarze Auge“ und „Roma aeterna und das vieltürmige Bosparan – Imperiale Expansion und Legitimation im Vergleich von Historie und Fantasy-Rollenspiel“ beide um die Setting-Box Die Dunklen Zeiten drehen. Walter macht darauf aufmerksam, dass der griechischen Antike gegenüber der römischen in DSA eine weit geringere Rolle zukomme als realweltlich und daher der ‚abendländischen‘ Kultur in DSA gewissermaßen die Grundlage fehle. Krieger beschreibt, wie sich viele „auf den ersten Blick vermeintlich erkennbare Übereinstimmungen“ zwischen dem römischen und dem bosparanischen Imperium bei genauerer Betrachtung auflösen, da nicht allein Rom oder die Antike, sondern ein ganzes „Konglomerat an Epochen“ (S. 170) als „Steinbruch“ (S. 170) für die Darstellung von Bosparan gedient hätten.

Thomas Walachs Aufsatz mit dem bewusst zweideutigen Titel „De Insulis Inventis. Aventurische Entdeckungsfahrten“, der sowohl entdeckte als auch erfundene Inseln meinen kann, legt dar, dass die ‚Entdeckung‘ (oder Erfindung) einer Insel im Rollenspiel strukturell der Entdeckung durch frühneuzeitliche Entdecker gleiche, da diese das Vorgefundene weniger entdeckten als sich ein kulturelles Anderes konstruierten. Der Vergleich mit DSA entlarve somit kolonialistische Diskurse als willkürliche Ordnungen.

V. Menschen und Nichtmenschen

Das fünfte Kapitel ist das wohl unterhaltsamste Kapitel des Bandes, da die Autoren neben harten Fakten auch mit diversen Kuriosa aufwarten.

Karin Fenböck & Stefan Donecker schreiben etwa in „Baumhocker und Bartmurmler – Der Umgang des Schwarzen Auges mit seinen Elfen und Zwergen“ den Umstand, dass die erschienenen DSA-Publikationen genau das Wesen der beiden Spezies widerspiegeln, zwar dem Zufall zu, würdigen ihn aber nichtsdestotrotz: „traditionell, bodenständig, etwas bieder, aber äußerst zweckdienlich und erfolgreich im Fall der Zwerge; experimentell, verwirrend und kaum fassbar im Falle der Elfen“ (S. 193).

Martin Tschiggerl vollzieht in „Orks sind auch nur Menschen – Der postcolonial turn in Aventurien“ am Beispiel der Orks nach, wie der postcolonial turn mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch in DSA-Publikationen angekommen sei. Den roten Faden des Aufsatzes bildet die These, die größte Gemeinsamkeit zwischen Orks und Mongolen sei, dass es sich „bei beiden Völkern um fiktive Konstrukte“ (S. 195) handle. Das referenzierte Mongolenbild des 18. Jahrhunderts habe so wenig mit den tatsächlichen Mongolen zu tun, dass man bei der orkischen Kultur von einem Simulacrum dritter Ordnung – einem referenzlosen Zeichen, das sich als Simulacrum lediglich auf ein anderes Simulacrum beziehe – sprechen könne.

Fazit

Abschließend ist zu honorieren, dass der Sammelband wertvolle Pionierarbeit auf dem Gebiet der Pen&Paper-Rollenspiel-Forschung leistet und zugleich in keinem Rollenspielregal fehl am Platz ist, auch wenn er bisweilen Opfer seiner hoch gesteckten Ziele wird. Durch die heterogene Zielgruppe aus RollenspielerInnen und WissenschaftlerInnen scheint den AutorInnen nicht immer klar gewesen zu sein, welches Wissen sie bei den RezipientInnen voraussetzen dürfen und welches nicht. So sind einige Beiträge aufgrund ihres wissenschaftlichen Fachvokabulars relativ hermetisch, während am anderen Ende manchmal Redundanz durch die Einführung in die Grundlagen der Welt von DSA entsteht.

Insbesondere die Beiträge des ersten Kapitels bestechen durch ihre wissenschaftliche Anschlussfähigkeit, während sich etwa im letzten Kapitel die Vorzüge eines essayistischeren Stils zeigen. So werden zwar nicht immer beide Pole der Zielgruppe des Bandes mit jedem Aufsatz glücklich werden, trotzdem dürften letztlich alle auf ihre Kosten kommen. Besonders zu empfehlen sind die Beiträge von Sebastian Bolte, Georg Koch & Annegret Heinrich, Lukas Schmutzer, Bastian Gillner, Thomas Walach, Karin Fenböck & Stefan Donecker und Martin Tschiggerl.

Als roter Faden zieht sich – mal implizit, mal explizit – der Authentizitätsdiskurs durch viele Beiträge des Bandes. Wiederkehrendes Fazit ist dabei, dass die Darstellung realweltlicher Phänomene in DSA – seien sie nun der Historie oder verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entnommen – mängelbehaftet seien, dass dies aber durch die Notwendigkeit, eine bespielbare Welt zu kreieren, erklär- und entschuldbar sei. Diese Wiederholung spricht jedoch nur für die Richtigkeit der Denkfigur, da die AutorInnen weitgehend unabhängig voneinander in Bezug auf verschiedenste Bereiche zu dem gleichen Schluss kommen.

 

So zitieren Sie diesen Artikel:

Ascher, Franziska: "Rezension: Forschungsdrang & Rollenspiel". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 18.02.2020, https://paidia.de/rezension-forschungsdrang-rollenspiel/. [29.03.2024 - 12:04]

Autor*innen:

Franziska Ascher

Dr. Franziska Ascher studierte von 2008 – 2014 Sprache und Literatur des Mittelalters, Neuere Deutsche Literatur sowie Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte 2020 in der Germanistischen Mediävistik bei Prof. Dr. Michael Waltenberger zum Thema „Erzählen im Imperativ – Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen“. Seit 2021 ist sie Mitherausgeberin von PAIDIA und Post-Doc in der Germanistischen Mediävistik an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Dissertation: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5811-8/erzaehlen-im-imperativ/?c=310000018&number=978-3-8394-5811-2