Arbeit als Spiel – Spielen als Arbeit. Thesen zum neuen Verhältnis von Erwerbsarbeit und Videospiel

21. Januar 2021

Es ist Feierabend und die Arbeit ist vorbei…

Spätestens seit den frühen 2010ern setzt sich selbst das Feuilleton kritisch mit dem Eindringen spielerischer Logiken in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche auseinander. Eine mich anlächelnde Zahnbürste nach der korrekten Zahnpflege, Belohnungen von der Krankenkasse bei ausbleibenden Arztbesuchen oder staatliche Sozialkredit-Systeme zur Punktevergabe bei ordentlichem Verhalten. Auch die Erwerbssphäre wurde immer mehr zur scheinbaren Spielwiese, zum Ort der Selbstverwirklichung: Programmieren im Bällebad von Google, eine Fußballhalle im Keller der Bundesagentur für Arbeit, Highscores in abgeschlossenen Anrufen im Callcenter – Was mit einem heimeligen Anstrich daherkam, entpuppte sich recht schnell als Mogelpackung, als spielerisches Element einer subjektivierten Arbeitswelt,1 die zwar eine erhöhte Mehrwertrate, aber letztlich keine Selbstverwirklichung ermöglichte. Im Gegenteil: Statt einer Selbstverwirklichung im System ging es meist eher um eine Verwirklichung des Systems im Selbst.2 Gamification fungiert als Methode der Motivationssteigerung. Das Individuum soll sich selbst überlisten, seine Abwehr gegen die Zumutung der Arbeit austricksen, um eine Verhaltensveränderung im Sinne kapitalistischer Wertschöpfung zu erzielen. Der ökonomischen Funktionalität der Kopplung vermeintlicher Spiel- und Freizeiterfahrungen an ihren Gegensatz steht jedoch eine breit diskutierte subjektive Dysfunktionalität daraus resultierender Entgrenzungs- und neuer Entfremdungserfahrungen gegenüber.3

Während Gamification in sozialwissenschaftlichen Debatten also zum problematischen Schlagwort für das Eindringen spielerischer Logiken in nicht-spielerische Sphären geworden ist, wollen wir im Folgenden den Blick einmal um 180 Grad wenden. Denn umgekehrt zeigt sich recht schnell, dass die nicht-spielerische Erwerbssphäre längst Bestandteil des Spiels ist.4 Konkret wollen wir uns mit dem Videospiel beschäftigen. Hier gilt die These u.E. umso mehr: Erwerbsarbeit und Logiken der Erwerbssphäre sind schon immer Bestandteil des Gamings.

Es gibt zwar vereinzelte Reproduktionssimulationen (zuvorderst die fordistische Variante bei Die Sims5 , klassische Tamagotchis oder auf Grinding angelegte Katzensitter-Apps6 ), aber für gewöhnlich geht es – wenn auch meist nicht explizit – um Leistung, Mehrwertproduktion und Einkommensgenerierung. Einmal erfolgreiche*r Manager*in sein, als Soldat*in in den Krieg ziehen, als Bürgermeister*in die Stadt oder eine ganze Insel regieren, die/der größte Wrestler*in aller Zeiten werden, vom Bordstein zur Skyline – es geht darum, Geld zu verdienen, reich zu werden, die/der Beste eines Faches zu werden, ein Imperium aufzubauen und das erfolgreichste Monopol auf Gottes schöner Erde zu erschaffen. Soweit so gut. Living a dream oder auch: dreaming of a life abseits der Alltagssorgen.

Die Erwerbssphäre, Erwerbsarbeit und ökonomische Logiken sind zwar klassische Bestandteile des Videospiels, bleiben jedoch meist implizit, mit phantastischem Charakter und einer deutlichen Differenzmarkierung zur angestrebten, realen oder realisierbaren Tätigkeit. In ihrer Verschleierung von Mehrwertproduktion, Leistungsethos und weiterer Logiken der kapitalistischen Erwerbssphäre bei gleichzeitiger Abkopplung von objektiven Bedingungen pendeln sie also zwischen Stahlbad und utopischem Erfahrungsraum.7

In unserem Artikel wollen wir uns zwei aktuellen Phänomenen widmen, in denen Erwerbsarbeit und Videospiel explizit verknüpft, Kapitallogiken gezielter verfolgt und Spielerlebnisse absichtlich zur Arbeit werden.

Erstens geht es um die Popularität unverschleierter Simulation von Erwerbsarbeit. Mit dem Omnibus die Haltestellen im verpixelten Gladbeck nach realen Fahrplänen abfahren oder mit dem Traktor stundenlang Felder pflügen – wir beschäftigen uns mit der Frage, warum Menschen nach getaner Arbeit statt in den Feierabend wieder in die simulierte Erwerbsarbeit gehen, worin also die psychosoziale Attraktivität solcher Spiele liegt. Zweitens folgen viele Videospiele zunehmend einer impliziten Logik fordistischer Erwerbstätigkeit: Um Zugang zu Endgame-Inhalten zu erhalten, verlangen sie kontinuierliches, zum Teil über hundert Spielstunden langes Grinding. Das heißt, die Spielenden führen repetitive Tätigkeiten aus, bis ihr Charakter das entsprechende Level beziehungsweise den entsprechenden Loot erhalten hat, um sich dem Ende des Spieles zu stellen – wenn es denn ein Ende gibt.

Beiden Phänomenen nähern wir uns aus soziologischer und sozialpsychologischer Perspektive, beanspruchen dabei jedoch weder, diese Phänomene auf einen (zeitdiagnostischen) Nenner zu bringen; noch maßen wir uns an, sie in ihrer Komplexität vollständig zu erklären. Anhand von Thesen wollen wir vielmehr die Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen Verhältnisses von Videospiel und Erwerbsarbeit aufzeigen.

Mit dem Omnibus durch Gladbeck

Was also, wenn eine andere Form von Erwerbsarbeit simuliert wird? Anstelle des utopistischen Ausbruchs aus dem drögen, zerstörerischen Arbeitsalltag oder der adoleszenten Krise, kann auch die Simulation sogenannter „einfacher“ Arbeit, produzierender Tätigkeiten oder alltäglicher Dienstleistungen Inhalt des Spiels werden Hier werden keine Länder erobert, keine Gegnerhorden niedergemetzelt, keine Städte verwaltet, sondern ganz banal in der Rolle des kleinen Mannes oder der kleinen Frau von nebenan mit dem Bus Station um Station angefahren. Diesen Traum kann man sich etwa mit OMSI – Der Omnibussimulator8 erfüllen. Dass OMSI keinen narzisstischen Freudentaumel verspricht, keine Action, Quests und Highscorejagden, das deutet schon der Klappentext seines Nachfolgers OMSI 29 recht eindrucksvoll an.

Auf geht’s in eine neue Runde. Erleben Sie die Omnibus-Simulation ganz neu mit dem OMSI 2 und starten Sie eine Erkundungsfahrt durch Spandau. OMSI 2 ist die Fortsetzung des bekannten und ausgezeichneten Omnibus – Simulator „OMSI - Der Omnibussimulator“.OMSI 2 bietet Ihnen nicht nur die bekannten Strecken und Busse aus OMSI, sondern auch noch viele spannende Neuerungen. Erleben Sie mit OMSI 2 den ersten Gelenkbus der OMSIGeschichte, den MAN NG272. Erkunden Sie mit ihm die neue Omnibuslinie 5 vom U-BahnhofRuhleben bis zur Nervenklinik Spandau mit insgesamt 12 km Fahrtstrecke. Mit der neuen Chronologiefunktion entdecken Sie nicht nur Spandau im Jahr 1986, sondern erleben Sie gleich den ganzen Wandel Spandaus von 1986 bis 1994. Lassen Sie sich also von demCharme der 80er und 90er Jahren verzaubern und erleben Sie die Nachwendezeit in Spandau als Busfahrer eines Doppeldeckers oder Gelenkbusses.

Mind blown. Ein einfacher Einwand gegen die Beschäftigung mit Arbeitssimulationen wäre, dass es schon immer Spiele gab, in denen sogenannte „einfache“ Arbeit und Dienstleistungen simuliert wurden. Im Gegensatz zu Spieleklassikern wie Paperboy10 , bei dem man seit 1984 einen kleinen Jungen auf dem BMX steuert und in einer US-Vorstadt Zeitungen austrägt, vor Hunden fliehen, über Rampen springen und irgendwie seinen jugendlichen Arbeitstag überleben muss, zeichnen sich OMSI und andere Arbeitssimulationen jedoch ganz offensichtlich durch das Gegenteil geballter Action aus. Die einzige Action ist der repetitive Arbeitsalltag, der evtl. „erfolgreich“ simuliert wird: Kommt der Bus rechtzeitig zur nächsten Haltestelle? Habe ich gerade das Ticket abgerechnet? Sind die Türen wirklich geschlossen? So fühlt es sich also an, Busfahrer*in zu sein.

Ein zweiter Einwand gegen die Beschäftigung mit dem Phänomen der Arbeitssimulation a la OMSI liegt ebenfalls nahe. Fünf Minuten mit dem Spiel oder meist auch ein einziger Blick genügen, um die technischen Restriktionen von Arbeitssimulationen zu erkennen.11 Das Gameplay ist für gewöhnlich mehr als durchwachsen, die Graphik überholt. Vor diesem Hintergrund drängt sich der Einwand gegen die spielerische und insbesondere ökonomische Relevanz auf. Verkaufszahlen sind (gerade im PC-Bereich) eine sehr komplizierte Angelegenheit. Doch die monatlichen Erhebungen der GfK lassen erahnen, dass OMSI 2 kein Welthit geworden ist, kein zweites GTA V12, das im gleichen Zeitraum erschien.

Nichtsdestotrotz lässt sich dem Spiel eine strukturelle Relevanz, auch aus ökonomischer Perspektive, nicht einfach absprechen. Wie bei vielen anderen Arbeits- und Berufssimulationen hat sich eine feste Community herausgebildet, gibt es ein breites Interesse an ironischen wie auch ernsthaften Let’s Plays und nicht zuletzt gibt es mindestens 34 (!) Add-Ons, die nach wie vor Abnehmer*innen finden. Unter anderem findet sich hierunter das skurril anmutende „Projekt Gladbeck“, bei dem Spieler*innen mit „größtem Realismus (…) Busfahrer-Alltag“ in der Ruhrpott-Metropole erleben dürfen. Und, auch wenn OMSI oder der Forstwirtschaftssimulator, Werksbrandschutz- und Berufsfeuerwehrsimulationen, der Eurotrucksimulator 2 mitsamt sechs Add-Ons und was es eben sonst noch so alles gibt, nicht voll durchgestartet sind, sind sie Teil eines Trends, der sich einerseits durch eine massive Internetcommunity auszeichnet, andererseits sehr wohl auch durch mindestens einen Triple-A-Title.

Wofür GTA V zwei Wochen benötigt hat – 200.000 Kopien auf dem PC zu verkaufen –, hat der Landwirtschafts-Simulator 201713 nur eine Woche benötigt. Plattformübergreifend verkaufte sich der Landwirtschafts-Simulator 201914 binnen zehn Tagen über eine Millionen Mal, etwa 450.000 Exemplare alleine auf dem PC, plattformübergreifend 600.000 Exemplare als physische Datenträger.15 Die seit 2008 erscheinende Simulation, bei der man die Rolle einer Landwirtin oder eines Landwirts übernimmt und einen Hof betreibt, erfreut sich nicht nur virtueller Beliebtheit als Objekt ironischer Distinktion – ein Argument das meist vorschnell in der Diskussion um Arbeitssimulation ins Feld geführt wird –, sondern ist ganz praktisch in vielen Wohnzimmern angekommen. Tiere versorgen, alternative Energien fördern, Felder pflügen und bestellen, Fahrzeuge mit dem Kärcher putzen und das eigens erwirtschaftete Produkt mit feinem Marktgespür verkaufen – über eine Millionen Menschen zahlen dafür, um abends die Ernte auf dem Pixel-Feld in gefühlter Slowmotion einzuholen.

Ohne behaupten zu wollen, dass die Arbeit von Landwirt*innen auch nur annähernd realistisch im Sinne der tatsächlichen Tätigkeit abgebildet wird, simuliert man in diesem Spiel explizit, langsam, repetitiv und bewusst (!) Erwerbsarbeit. Angesichts potentieller Alternativen der Abendgestaltung stellt sich die Frage, warum sich Menschen in der Freizeit nicht nur aufs Feld, sondern in jegliche bewusste Berufssimulation begeben. Die Thesen im Folgenden sollen als solche verstanden werden, knüpfen vereinzelt an frühere Diskussionen zur Arbeitssimulation an, gehen jedoch auch darüber hinaus.16

Erstens bergen Arbeitssimulationen eine mehrdimensionale nostalgisch-infantile Strahlkraft. Während wohl die meisten Spiele – völlig unabhängig des Genres – infantil-narzisstische oder infantil-regressive Bedürfnisse bedienen,17 ein subjektives bei sich selbst Sein bei gleichzeitig erlebter Unabhängigkeit/Omnipotenz, geht es in Arbeitssimulationen – weniger psychologisierend ausgedrückt – um kindliche Phantasien. Die Berufsbilder der simulierten Erwerbsarbeit (Bauernhof, Feuerwehr, Polizei, Bauarbeiter*innen, Müllwerker*innen) entsprechen den Berufsvorstellungen von (Klein-)Kindern, insbesondere von Jungen.18 Es handelt sich um im Alltag sichtbare Berufsbilder, über die Eltern ihren Kindern die gesellschaftliche Ordnung vermitteln. Die Bäuerin macht das Essen, die Feuerwehr löscht und rettet, die Polizei beschützt, Bauarbeiter*innen bauen die Häuser und die Müllwerker beseitigen frühmorgendlich zum Familienfrühstück den Müll.

Auch die ausgeführten, konkreten Tätigkeiten weisen in ihrer Simulation über das Notwendige hinaus infantile Anteile auf. Simuliert wird einzig das Leben als Lohnarbeiter*in im konkreten Betrieb, in der Dienststelle oder eben auf dem Bauernhof. Reproduktionsarbeit wird weitestgehend ausgeklammert (Der Landwirtschafts-Simulator funktioniert ohne Schlaf, quasi 24/7, wobei es von einer gespenstischen Unwirklichkeit ist, die Felder nachts zu bestellen) – das ist allerdings nicht weiter verwunderlich, denn es handelt sich ja nicht um Lebenssimulationen. Die Auswahl simulierter Tätigkeiten beschränkt sich für gewöhnlich auf kindliche Ideen des Berufsalltags. Simuliert wird so einiges, aber eben nicht realweltliche Konflikte, körperliche Tortur, Dreck und die gesellschaftliche Missachtung. Innerpolizeilicher Rassismus, (non)akademische Distinktion gegenüber Müllwerker*innen, Bauernhof 365/24/7, verbrannte Kolleg*innen, Todesängste usw. – das alles ist nicht Bestandteil des Spiels.

Neben Berufsbildern und simulierten Tätigkeiten knüpft auch die Form der dargestellten Warenproduktion an ein emotionales Pendant des infantilen Narzissmus an: es geht um Nostalgie, in deren Struktur sich auch Elemente der Arbeitssimulation eingliedern.19 Wie oben geschildert, wird Kindern über die am häufigsten simulierten Erwerbstätigkeiten nicht nur gesellschaftliche Ordnung vermittelt, sondern auch deren vermeintliche Stabilität. Es geht um die unbewusste Verklärung gesellschaftlicher Zustände und deren Erwerbsbedingungen. So werden in nostalgischer Manier häufig klassisch-fordistische Produktionsverhältnisse und Erwerbsbedingungen sowie subjektiv als sinnvoll wahrgenommene Tätigkeiten simuliert – eine scheinbar heile (Arbeits-)Welt. In Zeiten von entgrenzter Erwerbsarbeit, zunehmender Scheinselbständigkeit, projektförmiger Anstellungen, Beschleunigung und insbesondere von kontinuierlicher Zunahme von subjektiv als „sinnlos“ wahrgenommener Erwerbsarbeit kann es richtig „guttun“, einen nostalgisch als bodenständigen, gesellschaftlich sinnvoll imaginierten Beruf auszuführen.20

Die Simulation eines stabilen, sicheren, kontinuierlichen und gesellschaftlich sinnvollen Arbeitsverhältnisses ist gerade vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher und auch adoleszenzspezifischer Sozialisationsbedingungen nicht zu unterschätzen. Zunehmende Zukunftssorgen, ein zunehmender Anspruch auf sichere Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie eine an der eigenen Selbstverwirklichung im Job scheiternde Elterngeneration verdeutlichen die objektive und subjektive Brüchigkeit des Postfordismus.21 Während fordistische Arbeits- und Lebensbedingungen eine Trennung von Subjekt und Erwerbsarbeit erzwangen, jedoch eine normalbiographische Sicherheit gewährleisteten, sind im Postfordismus alle Schranken gefallen: Dass die Kopplung von Subjektivität und Arbeitsprozessen nur wenig Räume zu Selbstverwirklichung lässt und die Flexibilität der projektförmigen Erwerbsbiographie für die meisten kein cooles Freelancing, sondern Unsicherheit, Entfremdung und Prekarität mit sich gebracht hat, das zeigt bereits ein oberflächlicher Blick in die Arbeitssoziologie.22 Das Spiel bietet demgegenüber das Gefühl von Sicherheit und Sinnhaftigkeit, die letztlich Resultat simulierter Unfreiheit bleiben.

Neben der infantil-nostalgischen Strahlkraft der Arbeitssimulation vermuten wir zweitens, dass deren Attraktivität auch aus einer gewissen Utopiehaftigkeit herrührt. Utopie nun jedoch nicht im Blochschen Sinne einer Verbesserung/Überwindung gesellschaftlicher Zustände,23 sondern als konkreter Ausblick darauf, was denn in der eigenen Tätigkeit möglich wäre.

Die überwiegend verkauften physischen Datenträger des Landwirtschafts-Simulators sind ein Hinweis auf dessen besondere Nutzer*innenstruktur. Laut Angaben des Entwicklerstudios Giants Software haben 25 Prozent der Spieler*innen mindestens einen indirekten Bezug zur Landwirtschaft, 8-10 Prozent sind Vollzeitlandwirte.24 Die Vorstellung, dass Menschen die eigene Erwerbsarbeit nach getaner Arbeit auch noch in den eigenen vier Wänden simulieren, klingt nur solange absurd, bis man sich über die Gamer*innenstruktur von Egoshootern Gedanken macht. Der Landwirtschafts-Simulator bietet den Blick aufs Mögliche und (noch nicht oder nie) Erreichbare. Eben dieses Motiv äußert auch ein im guardian interviewter Landwirt:

One of the main reasons I play Farming Simulator is, in real life, we don’t run a very large operation. (…) But through Farming Simulator I can do that, with a lot of different equipmentchoices.“25

Digitale Wunscherfüllung verwehrter Realität – von außen schwer nachvollziehbar, könnte es letztlich doch ein befriedendes Erlebnis sein, mit einem neuen MAN NG 272 durch Gladbeck zu cruisen oder als Polizist*in endlich einmal erfolgreich Verbrechen zu bekämpfen, einmal nicht auf dem ‚ollen‘ Fiat-Traktor in dritter Generation, sondern mit dem neusten Fendt-Großtraktor die Felder in Rekordtempo bestellen. Passend dazu bieten viele Arbeitssimulationen mit ausreichender Internetcommunity online role-playing, in dem zusätzlich Gemeinschaft simuliert und letztlich real ja auch praktiziert wird.

Drittens darf bei der Frage nach der psychosozialen Attraktivität der Arbeitssimulation ein recht profaner Faktor nicht außen vor bleiben. Während sich Ökonomisierungsprozesse in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen zeigen,26 sich ökonomische Logiken und Verwertungsmöglichkeiten in vormals außerökonomischen Bereichen etablieren, weist der Gaming-Sektor ähnliche Prozesse auf. Einerseits zeigen sich innerhalb von Spielen immer mehr konkrete Ausformungen eines erweiterten Verwertungsprozesses, der nicht mehr mit dem Kauf des Spiels abgeschlossen ist (pay-to-win, DLC, Datenverwertung27 ); andererseits ergeben sich im Zuge globaler Vernetzung und kompetitiven Spielens immer mehr Gelegenheiten ökonomischer Verwertung des Interesses für jene Kompetitivität: meist wird dies – völlig zurecht – als E-Sport bezeichnet.

Der Landwirtschafts-Simulator lässt sich durchaus auch „vergleichend“ spielen: Wer hat in kürzester Zeit den größten Mehrwert erzielt? Wer hat am schnellsten ein bestimmtes Gerät gekauft oder ein Vermögen von 1.000.000 Euro angehäuft? Wer kann die Entschleunigung am besten beschleunigen? Der Landwirtschafts-Simulator ist längst zum E-Sport geworden. Es gibt eine eigene Liga mit knapp 250.000 Euro Preisgeld, es gibt eine Weltmeisterschaft und sogar erste Versuche des Speedrunnings.28 Mit der Ökonomisierung der Videospielwelt geht eine paradoxe Professionalisierung der Spieler*innen einher. Das Spielen von Erwerbsarbeit wird dann zur Erwerbsarbeit und ironischerweise wieder von der Freizeit entkoppelt. Einerseits beschreibt die Ökonomisierung also gesellschaftliche Prozesse, die subjektive und objektive Sicherheiten destabiliseren und somit die infantil-nostalgische Strahlkraft anschlussfähig machen; andererseits befördert eben jener massenhafte Anschluss seine erweiterte ökonomische Verwertung – irgendwie wird der fun also doch wieder zum Stahlbad.

Der Grind

Wurde in den Anfangszeiten des Videospiels die Geschicklichkeit der Spieler*innen, später ihre Fähigkeit zum Problemlösen und schließlich ihre taktische Finesse gefordert, ist im Feld nunmehr ein Gratifikationsprinzip dominant, welches auf die genannten Fähigkeiten weitgehend verzichtet: es geht um Erfahrungspunkte und Loot (Beute). Diese werden den Spieler*innen nicht aufgrund ihrer Cleverness verliehen, sondern anhand der Spieldauer, die sie damit zubringen, ihren Avatar durch die Monotonie immergleicher Spielabschnitte zu quälen. Umso länger die einförmige Routine anhält, umso belohnungsgieriger die Spieler*innen gegen sich selbst masochistisch sind, desto gewisser ist der Fortschritt, der doch keiner ist, außer die Möglichkeit, auf härterem Schwierigkeitsgrad das Spiel fortzusetzen. Das game over wurde hier abgeschafft: Ein „Durchspielen“ ist ebenso unmöglich wie das vorzeitige Ende durch den Tod des Avatars, der einmal niedergestreckt unter Umständen zwar an den Anfang des Levels zurückgeschleudert wird, aber zumeist Erfahrungspunkte und Loot behalten darf. Dabei werden Erfahrungspunkte kumulativ vergeben und die Loot zumeist nach einem Zufallsprinzip, das jedoch exakt beziffert, nach welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmter Gegner ein bestimmtes Item dropt.

In Diablo II29 lässt beispielsweise der Boss Mephisto im dritten Akt auf der härtesten Schwierigkeit den magischen Gürtel Arachnid Mesh mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:2626 fallen. Ein Mephisto-Run dauert im Schnitt zwei Minuten. Es ist theoretisch möglich, niemals an das begehrte Objekt zu kommen, allerdings wird es mit einer 0,04%igen Chance je Versuch immer unwahrscheinlicher. Komplementiert wird dieser berechenbare Zufall mit der stetigen Akkumulation von Erfahrungspunkten. Jeder besiegte Gegner macht den Avatar ein klein wenig stärker. Die Herausforderung besteht weniger in ihrem Besiegen, das irgendwann zum Automatismus wird – die Bewegungen gehen ins muscle memory über und benötigen kaum noch bewusste Aufmerksamkeit –, sondern in der Ausdauer der Wiederholung.30

Die Repetition senkt die Involviertheit der Spieler*innen auf ein Minimum bis zum Zustand einer meditativen gleichschwebenden Aufmerksamkeit.31 Der eintönige Marschschritt dieser Spiele scheint aber weniger Flucht vor der Realität, auch wenn die Einsamkeit vor dem Bildschirm diesen Eindruck aufzudrängen scheint, sondern ihre Fortsetzung unter anderem Vorzeichen. Zwar kann Grinding bisweilen zu Sinnkrisen bis hin zu Selbsthass über die Lebenszeitverschwendung führen, jedoch liegt offenbar etwas Beruhigendes im stetigen Fortschritt.

Der Videospiel-Journalist Jason Schreier brachte das 2013 in einem Interview auf den Punkt:

It's easy to love a world where improvement is guaranteed, where life follows a set of rules that allow you to level up and get better at your job not because of talent or luck, but because you worked at it. Effort guarantees results.32

Die Spieler*innen können hier einfordern, was ihnen sonst versagt bleibt: vorhersagbare und beständige Belohnung. Der Grind von Spielen wie World of Warcraft33 mag vielleicht monoton sein, aber der Grind in der „wirklichen“ Welt ist es eben auch, nur findet ersterer unter dem Vorzeichen der Verlässlichkeit statt, welche in letzterer durch die Erosion fordistischer Sicherheiten scheinbar immer weiter abhandengekommen ist. Der Postfordismus produziert Menschen, die nie ganz sicher sein können, wann ihnen etwas zusteht und ob sie das dann auch bekommen.34 Der Kleinbürgertraum vom Auto, Eigenheim, Rente und Mahagonisarg klingt nach, wenn der aufgerüstete Held irgendwann die Spitze der Ladder erreicht hat: Nur ausdauernd muss man sein, dann erhält man, was man verdient. Unabhängig der individuellen Voraussetzungen ist der Weg zum Triumph für alle gleichermaßen vorgezeichnet, man braucht nur die Sturheit, ihn bis zum Ende zu gehen, auch wenn das bedeutet, Freund*innen, den Job und insbesondere Schlaf zu vernachlässigen. Offenbar gibt es eine Sehnsucht nach dem Versprechen des Leistungsprinzips, mit dem der fordistische Arbeiter an den Betrieb und letztlich ans Band gefesselt werden sollte, sodass sich eine Unzahl von Spieler*innen am Feierabend der Dauerwiederholung des Grinds unterwerfen.

Gaming als Realitätsverarbeitung und Möglichkeitsraum

Wenn das Spielen in mehrfacher Hinsicht bewusst zur Arbeit gerinnt, stellt sich völlig zu Recht die Frage, weshalb sich Individuen einer Arbeitsgesellschaft überhaupt noch dem Spiel hingeben. Wir haben versucht, verschiedene Formen der Verschränkung von Videospiel und Arbeit in ihrer Attraktivität und Wirklogik thetisch nachzuvollziehen. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zeigt sich dabei nicht nur eine Vielfalt, sondern auch eine gewisse Widersprüchlichkeit subjektiver wie auch objektiver Ursachen für die Relevanz von Arbeit im und am Videospiel.

Gaming changiert zwischen nostalgisch infantiler und utopischer Sehnsucht, zwischen Flucht vor und Arbeit mitten in Ökonomisierungsprozessen, als Fortsetzung der Realität, jedoch unter verkehrten Vorzeichen. Auf einen gemeinsamen psychologischen und soziologischen Nenner gebracht geht es bei aktuellen Formen der Verschränkung von Arbeit und Videospiel um Erfahrung, Verarbeitung, Überwindung oder Hintergehung gesellschaftlicher, ganz konkret: postfordistischer Verhältnisse.

Während das Videospiel als Erfahrungsmöglichkeit vielmals verpönt, als realitätsverzerrend und suchtgefährdend diskutiert wird,35 wollen wir abschließend seinen gesellschaftlichen und durchaus auch „authentischen“ Charakter hervorheben. So absurd die Grafik des Polizei-Simulators auch sein mag, so stumpfsinnig der dreitausendste Mephisto Run auch ist virtuelle Ökonomie, repetitive Schinderei für EP und das Videospielen im Ganzen stehen nicht einfach abseits jeglicher „Realität“; die subjektiven Erfahrungen und Erlebnisse des Videospielens sind nicht sinnfrei und auf den Bauernhof meiner PlayStation begrenzt. Diese weitverbreitete Auffassung sitzt einem Trugschluss auf, der die zweite Natur mit der ersten verwechselt. Die „echte“ Welt da draußen, in die Jugendliche von ihren Eltern geschickt werden, wenn sie zu viel vor dem Bildschirm sitzen, ist nicht mehr oder weniger wirklich oder ursprünglich als diejenige, die auf den Monitoren zu sehen ist. Erfahrung ist gesellschaftlich präformiert, weshalb nicht nach ihrer Naturhaftigkeit, sondern ihrer spezifischen Qualität zu fragen ist.

Einerseits ist also die subjektive Wahrnehmung und Erfahrung im Videospiel gesellschaftlich strukturiert; andererseits sind das Spiel und das Spielen kulturelle Artefakte spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen und: sie knüpfen nicht nur an die Subjektivität ihrer RezipientInnen an, sie wirken auch darauf ein und darüber vermittelt auf gesellschaftliche Bedingungen – ganz im Bourdieuschen Sinne einer Dialektik von Objektivität und Subjektivität.36 Die Simulation spezifischer Formen der Erwerbsarbeit und das fordistisch anmutende System des Grindings bergen daher nicht nur Abstumpfung am Feld und Hornhaut an den Daumen; sie bieten (auch) einen Blick über die postfordistisch-spätkapitalistische Gesellschaft hinaus beziehungsweise verklären den Rückfall hinter diese Verhältnisse. Jenseits der Monetarisierung von Gaming im E-Sport oder beim Streamen ist diese Arbeitssimulation eigentümlicher Selbstzweck: Es ist wie Arbeit, aber nicht Arbeit. Der Zwang so er kein internalisierter ist, bleibt ausgesetzt, das Tempo gibt nicht die Leitung, sondern die Spielenden allein oder die online-community vor, in der man sich bewegt. Das Videospiel verdoppelt gesellschaftliche (Arbeits-)Verhältnisse im Symbolischen, was den Spielenden erlaubt, sich dazu in Distanz zu setzen: Ich arbeite, aber so wie es mir passt. Mit diesem Erlebnisangebot ähneln Videospiele der Kunst, wenn sie nicht längst Kunst sind.

 

Medienverzeichnis

Titelbild

Jördens, Merle Marie . 2020.

Spiele

Atari Games: Paperboy. 1984.

Blizzard Entertainment: World of Warcraft. 2004.

Blizzard North: Diablo II. 2000.

Giants Software: Der Landwirtschafts-Simulator 2017. 2016.

Giants Software: Der Landwirtschafts-Simulator 2019. 2018.

Hit-Point: Neko Atsume. 2014.

Maxis: Die Sims. 2000.

M-R-Software: OMSI – Der Omnibussimulator. 2011.

M-R-Software: OMSI 2 – Der Omnibussimulator 2. 2013.

Quadriga Games: Polizei – Der Polizeisimulator. 2011.

Rockstar North: Grand Theft Auto V. 2013.

Texte

Balint, Iuditha; Engelns, Markus: Arbeit als residuale Realität in Videospielen. In: Ernst, Thomas; Mein, Georg (Hg.): Literatur als Interdiskurs. Realismus und Normalismus, Interkulturalität und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart. Eine Festschrift für Rolf Parr zum 60. Geburtstag. München: Wilhelm Fink 2016, S. 639-652.

Bauman, Zygmunt: Retrotopia. Berlin: Suhrkamp 2017.

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1959.

Bourdieu, Pierre: Meditationen. Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001.

Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York: Basic Books 2001.

Düßler, Stefan: Computerspielsucht und Narzissmus. Pädagogische Probleme eines neuen Mediums. Eschborn: Verlag Dietmar Klotz 1989.

Eichler, Lutz: System und Selbst. Arbeit und Subjektivität in Zeiten ihrer strategischen Anerkennung. Bielefeld: transcript 2013.

Eichler, Lutz; Fischer, Andreas: Widersprüchliche Adoleszenz. Narzissmus und Triangulierung im Postfordismus. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. Jg. 96, H. 3 (2020), S. 413-430.

Freud, Sigmund. Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. GW Bd. 8. Frankfurt a.M.: Fischer 1912, S. 376–387

Gottfredson, Linda S.: Circumscription and Compromise: A Developmental Theory of Occupational Aspirations. In: Journal of Counseling Psychology Monograph. Jg. 28, H. 6 (1981), S. 545-579.

Graeber, David: Bullshit-Jobs. A theory. London: Penguin Books 2018.

Hernandez, Patricia: Are We Being Unfair When We Say That Grinding Sucks? Kotaku, 1.3.2018. https://kotaku.com/are-we-being-unfair-when-we-say-that-grinding-sucks-5972975 (26.10.2020).

Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer 1969.

Jaeggi, Rahel: Entfremdung – Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Kleemann, Frank: Subjektivierung von Arbeit – Eine Reflexion zum Stand des Diskurses. In: Arbeits- und Industriesoziologische Studien. Jg. 5, H. 2 (2012), S. 6-20.

Marcuse, Herbert. Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965.

Resch, Christine; Steinert, Heinz: Kapitalismus: Portrait einer Produktionsweise. Münster: Westfälisches Dampfboot 2011.

Reynolds, Simon: Retromania. Pop culture's addiction to its own past. London: Faber & Faber 2012.

Schimank, Uwe; Ute, Volkmann. Ökonomisierung der Gesellschaft. In: Maurer, Andrea (Hg.): Handbuch der Wirtschaftssoziologie. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 593-609.

Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta 1979.

Zuboff, Shoshona: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. New York / Frankfurt a. M.: Campus 2018.

Filme

GameStar: Die Polizei - Polizei-Simulator: Das Horror-Spiel im Test von GameStar. 2011. <https://www.youtube.com/watch?v=8BJG1Q3uLdE> [03.08.2020].

 

  1. Kleemann: Subjektivierung von Arbeit. 2012.[]
  2. Eichler: System und Selbst. 2013.[]
  3. Jaeggi: Entfremdung. 2016.[]
  4. Dabei geht es uns nicht darum, dass jeglicher fun automatisch Stahlbad ist(Horkheimer; Adorno: Dialektik der Aufklärung. 1969), sondern dass das Stahlbad absurderweise immer mehr zum Inhalt des funs wird. []
  5. Maxis: Die Sims. 2000.[]
  6. Hit-Point: Neko Atsume. 2014.[]
  7. Die Debatte kritischer TheoretikerInnen (bspw. Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. 1965) ums Verhältnis von Spiel, Freizeit, Kapitalismus und dessen (scheiternde) Überwindung wäre auch ein spannender Zugang zum Verhältnis von Videospiel zur Erwerbsarbeit. Wir konzentrieren uns im Folgenden jedoch weniger auf die theoretische Anknüpfung als vielmehr auf die deskriptive Beschreibung und thetisch geleitete Einordnung gegenwärtiger Phänomene.[]
  8. M-R-Software: OMSI – Der Omnibussimulator. 2011.[]
  9. M-R-Software: OMSI 2 – Der Omnibussimulator 2. 2013.[]
  10. Atari Games: Paperboy. 1984. []
  11. Ein herausragendes und mittlerweile zum Meme gewordenes Beispiel für die technische Katastrophe, die sich hinter den meisten Arbeitssimulationen verbirgt, stellt der GameStar-Testbericht zu Polizei – Der Polizeisimulator (Quadriga Games) aus dem Jahr 2011 dar. GameStar: Die Polizei - Polizei-Simulator: Das Horror-Spiel im Test von GameStar. 2011. <https://www.youtube.com/watch?v=8BJG1Q3uLdE> [03.08.2020]. []
  12. Rockstar North: Grand Theft Auto V. 2013.[]
  13. Giants Software: Der Landwirtschafts-Simulator 2017. 2016. []
  14. Giants Software: Der Landwirtschafts-Simulator 2019. 2018. []
  15. Neben der abgesetzten Menge erweist sich gerade das Verhältnis digitaler zu physischer Kopien des Landwirtschafts-Simulators als spannend. Indem er nicht dem „Trend der digitalen Kopie“ entspricht, deutet sich eine besondere Zusammensetzung seiner Spielerschaft an (Scholz: Landwirtschafts-Simulator 2019. 2019. < https://www.giga.de/spiele/ls-19-landwirtschafts-simulator-19/news/landwirtschafts-simulator-19-ueber-eine-million-kopien-in-10-tagen-verkauft/> [18.12.2020]).[]
  16. Weitere Ausführungen zur interdisziplinären und ökonomischen Relevanz von Arbeitssimulationen sowie zugehörige Thesen finden sich bei Balint und Engelns: Arbeit als residuale Realität in Videospielen. 2016.[]
  17. Eine Verbindung von Narzissmus und Computerspiel gibt es seit jeher in öffentlichen, aber auch wissenschaftlichen Debatten zur Computerspielsucht (Düßler: Computerspiel und Narzißmus. 1989). Die hier stattfindene Einengung des Narzissmusbegriffs auf ein pathologisches Phänomen schränkt jedoch gerade die produktiven Anteile infantiler und adoleszenter Dynamiken des Narzissmus ein, die sich gerade im (Computer)Spiel entfalten (Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. 1979).[]
  18. Gottfredson: Circumscription and Compromise. 1981.[]
  19. Die zeitdiagnostische Feststellung einer Verkehrung von utopischem Streben nach besseren gesellschaftlichen Bedingungen in ein nostalgisches Sehnen nach der guten alten Zeit liegt für die Literatur (Boym: The Future of Nostalgia. 2001), für die Popkultur (Reynolds: Retromania. 2012) sowie für die gesamte Gesellschaft vor (Bauman: Retrotopia. 2017). Im Kontext von Videospielen finden sich aktuell mehr denn je nostalgische Elemente, Bezüge, Referenzen – gerade in der Neuauflage von Spielen, die gegenwärtig einen großen Teil des Marktes ausmacht –, was eine ausführliche Auseinandersetzung mit nostalgischen Elementen in Videospielen geradezu herausfordert. []
  20. Gerade die zunehmende objektive und subjektive Sinnbefreiung der Erwerbssphäre stehen aktuell im Fokus sozial- und geisteswissenschaftlicher Debatten um „sinnvolle Arbeit“ und „Bullshit-Jobs“ (Graeber: BullshitJobs. 2018). []
  21. Einen guten Einblick, gerade ins Sicherheitsbedürfnis und die Zukunftssorgen Jugendlicher, geben u.a. die aktuellen Shell-Jugendstudien (Albert et al.: Jugend 2019. 2019).[]
  22. Wir wollen den Fordismus natürlich nicht zum goldenen Zeitalter verklären oder behaupten, dass es normalbiographische Sicherheiten für alle gegeben hätte (Eichler: System und Selbst. 2013). Worauf es uns ankommt, sind die für den Postfordismus spezifischen Beschäftigungsformen, Ideologien und Anrufungen, die sich in ihrem Charakter insbesondere über ihre Unsicherheitsaspekte von ihrem fordistischen Pendant unterscheiden (Resch; Steinert: Kapitalismus. 2011).[]
  23. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 1959.[]
  24. Rick Lane: Meet the real-life farmers who play Farming Simulator. <https://www.theguardian.com/games/2018/jul/24/meet-the-real-life-farmers-who-play-farming-simulator> [05.08.2020]. Noch höhere Schätzungen zu den Vollzeitlandwirten finden sich zu den früheren Varianten des Landwirtschaft-Simulators: <https://www.gameswirtschaft.de/marketing-pr/landwirtschafts-simulator-2017/> [05.08.2020].[]
  25. Rick Lane: Meet the real-life farmers who play Farming Simulator. <https://www.theguardian.com/games/2018/jul/24/meet-the-real-life-farmers-who-play-farming-simulator> [05.08.2020]. []
  26. Zur Ökonomisierung der Gesellschaft findet seit den späten 00er-Jahren eine breite Debatte insbesondere innerhalb der Arbeits-, Bildungs-, Jugend- und Kultursoziologie statt (Schimank; Volkmann: Ökonomisierung der Gesellschaft. 2016). Dabei ist hervorzuheben, dass die Debatte zwar weitestgehend aus einer gesellschaftskritischen Perspektive geführt wird, der Outcome jener Ökonomisierungsprozesse jedoch nur zu Teilen empirisch beforscht ist und sich tendenziell widersprüchlich gestaltet (Eichler; Fischer: Widersprüchliche Adoleszenz. 2020).[]
  27. Eine ökonomische und soziologische Analyse des komplexen Verwertungsprozesses von Daten, die in oder über Spiele erfasst und an sogenannte „Dritte“ verkauft werden, gibt Shoshona Zuboff in Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (2018). []
  28. Informationen zur Farming Simulator League (FSL) und weiteren Turnieren finden sich unter: https://fsl.giants-software.com/ [05.08.2020]. []
  29. Blizzard North: Diablo II. 2000. []
  30. Beliebt sind mittlerweile auch Mobile Games die diesen Prozess vollständig automatisieren: In Idle Hero Games sammeln die Avatare selbständig Beute und Erfahrungspunkte, beinahe ohne spielerisches Zutun. Die Spieler*innen werden hier gewissermaßen obsolet, nehmen die Position von Zuschauenden ein, die lediglich Exekutiventscheidung, wie die Rekrutierung einer neuen Heldin treffen und den Prozess durch Echtgeldkäufe beschleunigen können.[]
  31. Vgl. zum Begriff der gleichschwebenden Aufmerksamkeit z.B. Freud (1912). Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. GW Bd. 8 (S. 376–387), S. 377.[]
  32. Hernandez: Are We Being Unfair When We Say That Grinding Sucks? 2013.[]
  33. Blizzard Entertainment: World of Warcraft. 2004.[]
  34. Eichler; Fischer: Widersprüchliche Adoleszenz. 2020.[]
  35. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zur anfänglich distinktiven Behandlung des Jugendromans oder des Fernsehens.[]
  36. Bourdieu: Meditationen. 2001.[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Uhlig, TomFischer, Andreas: "Arbeit als Spiel – Spielen als Arbeit. Thesen zum neuen Verhältnis von Erwerbsarbeit und Videospiel". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 21.01.2021, https://paidia.de/arbeit-als-spiel-spielen-als-arbeit-thesen-zum-neuen-verhaeltnis-von-erwerbsarbeit-und-videospiel/. [24.04.2024 - 15:02]

Autor*innen:

Tom Uhlig

Tom Uhlig ist Bildungsreferent an der Bildungsstätte Anne Frank mit dem Arbeitsschwerpunkt Antisemitismus sowie Mitherausgeber der Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie Freie Assoziation sowie der Psychologie und Gesellschaftskritik.

Andreas Fischer

Andreas Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Jugend- und Arbeitssoziologie, die Analyse gegenwärtiger (Pop)Kultur sowie Methoden der empirischen Sozialforschung.