Pietro Longhi:The Game of the Cooking Pot. ca. 1744.

Die Wissenschaft der Computerspiele. Eine Geschichte von Vorurteilen

15. Oktober 2021

Jochen Koubek

 

Im Wintersemester 2015/16 wurde an der Universität Bayreuth der Masterstudiengang „Computerspielwissenschaften“ eingerichtet, als Kooperation der Fächer Medienwissenschaft und Informatik, die im Modulplan gleichberechtigt vertreten sind. In seinem Zentrum steht die Untersuchung der historischen, ästhetischen und technischen Aspekte von Computerspielen sowie die theoretisch angeleitete und reflektierte Umsetzung in praktischen Entwicklungsprojekten. Mit seiner interdisziplinären Ausrichtung befasst er sich auf einer medientheoretischen und kulturwissenschaftlichen Grundlage mit Theorien, Kulturen und Ästhetiken des Spiels. Auf Seiten der Informatik werden Computerspiele als informationstechnische Systeme betrachtet und in die Analyse ihrer Architektur, Algorithmen und Datenstrukturen eingeführt. Diese Grundlagen werden in umfangreichen Projektarbeiten konzeptuell und technisch umgesetzt, wodurch nicht nur ein vertieftes Verständnis für das Phänomen Computerspiel erreicht, sondern gleichzeitig der Aufbau eines Spielportfolios gefördert wird. Das bedeutet für Studierende, sich gleichermaßen auf Gegenstände, Methoden und Rationalitäten zwei verschiedener Fächer einzulassen, wobei nicht zuletzt vor dem Hintergrund der bisherigen Bildungsbiografie Schwerpunkte gesetzt werden können.

Ein solches Unterfangen war und ist auf verschiedenen Ebenen von Herausforderungen begleitet, weil alle, die sich damit in Gremien, Pressemitteilungen, Bewerbungen oder allgemeinen Diskussionen auseinandersetzen, dies immer nur vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen machen können. Gerade in Bezug auf Computerspiele sind diese Hintergründe sehr heterogen und äußern sich vielfach, nicht zuletzt aus Mangel an Sachkenntnissen, als Vorurteile. Einige davon sollen in diesem Aufsatz angesprochen werden, weil sie typisch für den Blick auf Computerspiele sind und den Versuch ihrer akademischen Institutionalisierung auch an anderen Orten begleiten dürften. Wie der Begriff des „Spiels“ sind sie zueinander widersprüchlich, bisweilen sogar bei ein und derselben Person.

Brian Sutton-Smith hat diese Vieldeutigkeit in seinem Buch The Ambiguity of Play als „Rhetoriken“ bezeichnet. Dieser Begriff im Zusammenhang mit Spielen bezieht sich dabei nicht, wie z. B. bei Ian Bogost, auf die Bedeutungsangebote, die Spiele als Medium machen können, sondern ist vielmehr als „Diskurs“ zu übersetzen: „The word rhetoric is used here in its modern sense, as being a persuasive discourse, or an implicit narrative, wittingly or unwittingly adopted by members of a particular affiliation to persuade others of the veracity and worthwhileness of their beliefs. “ (Sutton-Smith, S. 8)

Im Folgenden stelle ich zunächst allgemeine Annahmen über den institutionellen Rahmen vor, der mir vor allem im Umgang mit nicht an einer Universität Ausgebildeten begegnet. Anschließend gehe ich auf spezifische Vorurteile bezüglich der Gegenstände Spiel und Spielen ein, soweit sie sich in die von Sutton-Smith identifizierten Diskurse einordnen lassen. Abschließend folgen einige Gedanken zu den Game Studies in Deutschland, die aufgrund ihrer akademischen Verankerung eigene Vorstellungen über ihre Geschichte, ihren Gegenstand und ihre Methoden gebildet haben.

1. Was Universität ist

Das vielleicht verbreitetste Vorurteil, das auch einen Großteil der Studierenden dazu veranlasst, sich an einer Universität zu bewerben, ist die Annahme, dort die hochwertigste nicht-handwerkliche Berufsausbildung zu erhalten, die das Bildungssystem zu bieten hat. Solange das Abitur als Krönung der Schulbildung verstanden wird, ist die damit exklusiv verbundene Zulassung zu einem Universitätsstudium die natürliche Fortsetzung. Erwartet wird dann dort aber nicht die Ausbildung zu einer wissenschaftlichen Laufbahn, sondern die optimale und exzellente Vorbereitung auf konkrete Berufsbilder. Aber nicht nur Studierende erwarten Berufsvorbereitung, auch das Bildungsministerium fordert bei der Einrichtung eines neuen Studiengangs die Angabe, wie hoch der indikatorengestützte, geschätzte Bedarf an Fachkräften mit dem angestrebten Qualifikationsprofil auf dem Arbeitsmarkt sein wird.

Berufsausbildung erfordert vor allem die Bereitstellung von Verfügungswissen, das nach dem Abschluss möglichst nahtlos in einem Berufsfeld eingesetzt werden kann. Dies passt selten zu dem in einer Universität angebotenen Orientierungswissen, das zunächst einmal auf Erkenntnisgewinn und Weltverständnis abzielt, ohne dass dadurch ein bestimmtes Berufsbild bedient würde.

Menschen, die mit der Erwartung einer Berufsbildung an eine Universität kommen, haben ein grundsätzliches Missverständnis davon, was Wissenschaft leisten will und kann. Erwartet wird, dass die Wissenschaften mit wissenschaftlicher Strenge erklären, wie etwas richtig gemacht wird. Die Medienwissenschaft erklärt demnach, wie man richtig Filme dreht oder richtig Computerspiele konzipiert, die Informatik wie man richtig programmiert und eine Game Engine beherrscht.

Neben den allgemeinen Vorurteilen, was Universität und Wissenschaft ist, gibt es speziellere Annahmen über die am Studiengang beteiligten Disziplinen, in unserem Fall über Medienwissenschaft und Informatik.

1.1 Was Medienwissenschaft ist

Die Öffentlichkeit, z. B. vertreten durch die Presse, geht davon aus, dass Medienwissenschaft sich mit allen Fragen rund um Medien beschäftigt und dabei vor allem an Medienwirkungen interessiert sei. Medienwissenschaft ist in dieser Vorstellung gleichbedeutend mit Medienwirkforschung, am besten mit klarer Prognose über künftige Entwicklungen. Regelmäßig werden wir also gefragt, „wie digitale/soziale Medien unser Verhalten verändern“, wie „unsere Mediennutzung in 20 Jahren aussehen wird“ oder ob wir (wahlweise auch ob Kinder) „zu viel Zeit vor dem Bildschirm/Smartphones/Spielen verbringen“ und welche Folgen das wohl haben werde.

Als einfache und für Außenstehende verständliche Klarstellung, womit sich Medienwissenschaft (unter anderem) beschäftigt, hat sich der Vergleich mit der Literaturwissenschaft bzw., je nach Kenntnisstand der Gesprächspartner, mit dem Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe erwiesen, in der es weder darum geht, zum richtigen Schreiben literarischer Texte anzuleiten, noch um die Untersuchung der Wirkung von Literatur auf die Leser:innen . Vielmehr geht es bei der Betrachtung von Werken um die interpretative Erschließung ihrer Bedeutungsangebote, wobei die Medienwissenschaft dabei weniger auf Literatur, sondern vielmehr auf Filme, Fernsehsendungen oder auch Computerspiele schaut.

Ebenso lässt sich der Vermutung, während der Lehrveranstaltungen würde überwiegend gespielt, mit einem Verweis auf bekanntere Fächer begegnen. „Daddeln im Hauptseminar“1 titelte die Süddeutsche Zeitung im Mai 2015 bei der Ankündigung des Studiengangs, was vielleicht charmant gemeint war, aber auch impliziert, dass für wenig gehaltvolle Tätigkeiten wie Computerspielen neuerdings sogar ein Diplom vergeben werde. Seitdem erkläre ich in jedem Interview zum Studiengang ungefragt, dass eine Vorlesung in der Germanistik ja auch keine Literaturlesung sei und die Musikwissenschaft nicht überwiegend Konzertaufnahmen abspielt.

1.2 Was Informatik ist

Auf informatischer Seite wird davon ausgegangen, dass hier alles rund um Computer behandelt werde, wobei dies mit Blick auf die eigene Lebenswelt im Wesentlichen die richtige Beherrschung von Geräten und Programmen bedeutet. Bei Studierenden ohne Erfahrung mit dem akademischen Fach der Informatik begegnet man vor allem der Annahme, es handle sich dabei vor allem um eine Programmierausbildung, in unserem Fall um die Programmierung von Spielen, was wiederum verkürzt wird auf die Annahme, Informatik konzentriere sich auf die Ausbildung in einer oder mehrerer Game Engines. Auch hier ist die Enttäuschung groß, wenn genau das nicht gemacht wird, weil die Informatik zwar Programmierkenntnisse voraussetzt, diese aber außerhalb weniger Veranstaltungen kaum lehrt.

Der universitäre Studiengang Computerspielwissenschaften erscheint damit verkürzt als Kombination von zwei Disziplinen, von denen die eine sich mit der richtigen Konzeption von Spielen, die andere mit der richtigen Implementierung dieser Konzepte im Computer beschäftigt. ‚Richtig‘ ist dieses Wissen, weil es an einer Universität gelehrt wird und damit wissenschaftlich belegt ist. Und es ist dieses Wissen, das in der Spiele-Industrie gebraucht wird, weswegen der Studiengang auf eine Tätigkeit in dieser Branche optimal vorbereitet.

Diese Sicht ist nicht gänzlich verkehrt, Game Design und Projektarbeit nehmen im Curriculum ja tatsächlich bis zu einem Drittel der Leistungspunkte ein, im Herzen der Studierenden sogar deutlich mehr. Verkürzt ist sie, weil sie die übrigen zwei Drittel wissenschaftliche Arbeit – sowohl medienwissenschaftliche als auch informatische – entweder vernachlässigt oder als Fundament für die Praxis missdeutet.

2. Was Spiele sind

Anders als Vorurteile bzw. Missverständnisse bzgl. Universität und Wissenschaft sind einige der Vorurteile gegenüber dem Gegenstand Spiel, Computerspiel und dem Akt des Spielens schwieriger aus der Welt zu schaffen, weil sie von Menschen geäußert werden, die sich im Grunde nicht mit Spielen beschäftigen möchten, dies auch nicht müssen, dabei aber bei der Planung, in der Gremien- und Öffentlichkeitsarbeit oder für wissenschaftliche Kooperationen entscheidend sein können, im Guten wie im Schlechten.

 2.1 Spielen ist eine Beschäftigung von Kindern

Das häufigste Vorurteil, dem ich begegne, seit ich mich öffentlich dazu bekenne, mich wissenschaftlich mit Spielen zu beschäftigen, ist die Frage, ob Spielen denn nicht nur etwas für Kinder sei. Diese Auffassung, dass die Beschäftigung mit Spielen in eine Lebensphase gehört, die spätestens mit der Schule abgeschlossen sein sollte, reicht so weit, dass bereits der Bekundung des Interesses am Gegenstand etwas Infantiles anhaftet. Wie bei allen Vorurteilen sagt auch dieses mehr über die Person aus, die es äußert, als über die Sache, auf die es sich bezieht. Im Kern ist dieses Vorurteil zwar harmlos, dennoch kann die Vermutung, dass Spiele im Grunde nur Zeit und Ressourcen verschwenden und eine ernsthafte oder gar wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht wert seien, dazu führen, dass eben diese benötigten Ressourcen nicht oder nur widerwillig bereitgestellt werden.

Die Assoziation von Spiel und Kind ist so stark, dass der Spiel-Begriff besonders im deutschsprachigen Raum in vielen Kontexten gezielt vermieden wird. Im Zusammenhang mit Computerspielen wird lieber von „Unterhaltungssoftware“, „interactive entertainment“ oder kurz „Games“ gesprochen. Auch die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit Spielen wird in Deutschland lieber als „Game Studies“ bezeichnet, was einerseits an den angelsächsischen und englischsprachig-skandinavischen Wurzeln dieser Disziplin liegt, andererseits Diskussionen in Lehrplanungssitzungen vermeidet, was denn diese Spielereien in einem universitären Curriculum verloren haben.

Auch für unseren Studiengang hätten in verschiedenen Gremien manche Teilnehmer:innen lieber das Wort „Games“ im Titel gesehen, weil, so ein Argument, als Lesart nicht „Computer-Spielwissenschaft“ möglich wäre, was ja schon dem Namen nach keine ernstzunehmende Angelegenheit sein könne. Letztlich habe wir für das Lehr- und Forschungsprogramm ganz bewusst den Begriff „Computerspielwissenschaft“ gewählt, nicht zuletzt, um den Spielbegriff in der öffentlichen Wahrnehmung als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung sichtbarer zu machen. Dennoch kommt der Begriff „Spiel“ vielen Menschen nicht leicht über die Lippen, was ich z. B. bei Vorträgen merke, wenn ich als Bayreuther Wissenschaftler vorgestellt werden, der sich mit „Games“ beschäftigt, häufig kombiniert mit dem nächsten Vorurteil.

 2.2 Spielen ist Fortschritt

Ebenfalls mit Kindheit, aber deutlich positiver konnotiert, ist das Vorurteil, das Spielen mit persönlichem Wachstum gleichsetzt, schließlich kann man in Spielen so viel lernen, und Lernen gelingt spielerisch am besten. Hier schließt sich der Kreis, wenn nach kurzem Befremden darüber, wieso sich ein Erwachsener ernsthaft mit Spielen beschäftigt, die Erkenntnis aufblitzt, dass es sich dabei natürlich nur um Serious Games, Lernspiele oder Gamification handeln kann. Wie kein anderes Medium stehen Computerspiele unter dem Rechtfertigungsdruck der Nützlichkeit und Lernen ist eine Antwort auf die Frage, inwiefern Spiele nützlich sein können. Bei anderen Mediengattungen gilt es inzwischen als akzeptabel, dass einige (Bücher), viele (Film), wenn nicht sogar die meisten (Fernsehen) Werke nicht mehr erreichen wollen, als zu unterhalten. Damit Spiele aber als diskursiv satisfaktionsfähig wahrgenommen werden, müssen sie ihren darüber hinaus gehenden Nutzen nachweisen. In nahezu jedem Vortrag vor und jeder Diskussion mit Nicht-Fachleuten wird daher früher oder später die Frage gestellt, „was es denn bringe“ zu spielen oder sich mit Spielen zu beschäftigen, und ob ich Beispiele nennen könne, in denen Spielende „etwas Sinnvolles lernen“ oder ob ich Personen kenne, die durch Spiele „weitergekommen“ seien. Antworten auf diese Fragen sind einfach zu geben, manchmal ist es aber besser, die oder den Fragenden mit den eigenen impliziten Annahmen bezüglich des Mediums zu konfrontieren und, anstatt Vorurteilen mit Rechtfertigung zu begegnen, eine Reflexion über Diskursordnungen und Machstrukturen anzuregen.

Eine Presseanfrage, die mich per E-Mail erreichte, verbindet zwei verschiedene Vorurteile auf geschickte Weise: „Ist Spielen nicht nur etwas für Kinder? (bewusst provokant – manche Personen, z.B. aus dem Senior Management reagieren ja zunächst mit Ablehnung „Wir sind hier ja nicht im Kindergarten“ – gerne Beschreibung, warum Gamification-Ansätze nützlich sind)“. Die Frage speist sich aus dem Vorurteil, dass Spiele keine ernsthafte Beschäftigung wert seien, die Klammer macht deutlich, dass die Alten halt so dächten und es sich keineswegs um die Sichtweise der Fragestellerin handle, die es natürlich besser weiß, weil Spiele nämlich ganz schön nützlich sein können, Stichwort: „Gamification“.

 2.3 Spielen ist Stärke

Die Rhetorik von Spielen als Zeichen von Macht bezieht sich bei Sutton-Smith vor allem auf sportliche Wettkämpfe, bei denen regelmäßig der Stolz und die Ehre ganzer Nationen verhandelt zu werden scheinen und der Medaillenspiegel die Rangordnung der internationalen Relevanz reflektiert. Im Zusammenhang mit Computerspielen wäre die konsequente Erweiterung der E-Sport, der allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung kaum erscheint und bei der Einrichtung der Computerspielewissenschaften keine Rolle spielte, obwohl es an der Uni Bayreuth eine sehr aktive E-Sport-Gruppe gibt.

Das Vorurteil, Spielerfolg sei ein Zeichen von Macht und Stärke, wurde bei Computerspielen lange Zeit in der Perversion gesehen, dass Spieler ihre Machtlosigkeit in der äußeren Welt mit Erfolgen in der Spielwelt zu kompensieren versuchen und dabei permanent der Gefahr ausgesetzt sind, den Unterscheid nicht mehr zu erkennen und ihre erspielte Allmachtsphantasie in der Außenwelt auszuleben.

In den frühen 00er-Jahren verdichtete sich die Vermutung allgemeiner kognitiver, affektiver und psychomotorischer Beeinträchtigung durch Computerspiele zu dem konkreten Verdacht der Abstumpfung und Gewaltförderung, die um das Jahr 2010 mit der ‚Killerspiel-Debatte‘ ihren diskursiven Höhepunkt erreichte. Die Vermutung war, dass gewalthaltige Spiele bei ihren Rezipienten ein Gefühl von Stärke und Überlegenheit erzeugen, von denen zumindest einige dieses Selbstverständnis ungefiltert in ihre soziale Außenwelt tragen und, berauscht von dem Gefühl der eigenen Allmacht, fortan Konflikte mit Gewalt lösen.

Insbesondere in Bayern war mit dem Vorstoß eines Verbots von sog. Killerspielen durch Ministerpräsident Günther Beckstein ab 2005 die Stimmung gegen Computerspiele sehr angespannt, zumal wissenschaftliche Gegenmeinungen zur unmittelbar einsichtigen Evidenz eher als hinderlich gesehen wurden. In diesem Klima der politischen Gewissheit sahen wir uns an der Universität Bayreuth gezwungen, die ab 2011 im Bachelor begonnen spielbezogenen Lehrveranstaltungen als „interaktive Medien“ oder „Gestaltung digitaler Medien“ zu betiteln, um in dem für die Genehmigung von Studiengängen zuständigen Ministerium keinen Verdacht zu erwecken, dass man sich in Bayern auf Staatskosten mit ‚Killerspielen‘ beschäftige.

Vor allem durch die statistisch eindeutig negative Korrelation von jugendlicher Gewalt und Computerspielnutzung hat die öffentliche Sorge, die weiterhin von einer Schädigungswirkung überzeugt sein will, sich in den letzten 10 Jahren vom Diskurs der fehlgeleiteten Machtausübung abgewandt und eine andere Überzeugung gefunden.

 2.4 Spielen ist Schicksal

Computerspiele werden in diesem Diskurs ähnlich bewertet wie Glücksspiele, die eine nicht kontrollierbare Sogwirkung entfalten und Menschen, die ihnen ausgesetzt sind – allen voran Kinder und Jugendliche – ins Verderben ziehen können. Die Aufnahme der „Internet Gaming Disorder“ in die 5. Auflage des Diagnostischen und statistischen Leitfadens psychischer Störungen (DSM-5) hat gerade bei Außenstehenden die Vermutung bekräftigt, dass Computerspiele keineswegs harmlose Freizeitbeschäftigungen, sondern vielmehr potenzielle Suchtmittel seien. Die Einführung unseres Studiengangs wurde durch eine Sitzungsrunde der Kommission für Lehre und Studium blockiert, weil ein Gremiumsmitglied der Meinung war, man könne ja gleich ebenso gut „Drogenwissenschaften“ einführen, und eine Universität setze ihre Reputation aufs Spiel, wenn sie sich öffentlich zu diesem Forschungsgegenstand bekenne. Macht an der Universität ist vor allem Verhinderungsmacht und es brauchte eine Intervention der Hochschulleitung, um diese moral panic zu entkrampfen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass die unkontrollierte Nutzung von Computerspielen kein Problem darstellt. Nachweisbar gibt es Computerspielsucht, allerdings weder in gesellschaftlich besorgniserregendem Ausmaß noch monokausal durch Spiele verursacht. Gründe für die Entstehung einer Verhaltungssucht sind vielfältig, sie haben ihre Wurzeln sowohl in der Persönlichkeit, in der genetischen Prädisposition als auch im Belohnungsreiz des Suchtobjekts. Und gerade im Bereich Free-to-Play gibt es seit einigen Jahren auffallende Annäherung von Computerspielen an Glücksspiele sowie eine gezielte Ausnutzung menschlicher Urteilsschwächen. Derartige Phänomene sind aber eher ein Grund für eine systematische Beobachtung, wobei eine Wirkforschung primär auf Spielende, eine Werkforschung auf Game Design und Spielökonomien achten kann.

2.5 Spielen ist frivol

Wenn Computerspiele weder automatisch und bei jeder Spieler:in eine aggressionsfördernde oder suchterzeugende Wirkung haben, kanalisiert sich die Schädigungsüberzeugung in einem anderen Diskurs: in dem der völligen Sinn- und Zwecklosigkeit des Spiels. Und eben darin liegt die neue Bedrohung, denn die Zeit, die jemand mit nutzlosen Dingen zubringt, fehlt an anderer Stelle, bei der Ausbildung, bei der Arbeit, bei der persönlichen Entwicklung und der nötigen Hinwendung zur realen Welt und dem echten Leben. Auch diesen Vorwurf teilen sich Spiele mit anderen Medien: Nachdem die Gesellschaft an der Kulturindustrie (Horkheimer/Adorno) zu Grunde gegangen ist, sich die Jugend bereits in den 80er-Jahren am Fernsehen zu Tode amüsiert hat (Postman) und die technischen Bilder (Flusser) und Simulakren (Baudrillard) den Zugang zur Lebenswelt abgeschnitten haben, reihen sich die Computerspiele ein in das Panoptikum der kulturzersetzenden elektronischen Medien. Etwas derart Substanzloses, das bestenfalls noch Kinder amüsiert, verdient demnach nicht die Ressourcen der akademischen Auseinandersetzung, die Beschäftigung damit wird als ebenso frivol wahrgenommen wie der Gegenstand selbst.

Glücklicherweise löst sich dieser Diskurs durch den im nächsten Abschnitt aufgeführten zunehmend auf, weil sich immer deutlicher eine Analogie zu etablierteren Mediengattungen herstellen lässt.

2.6 Spielen ist die Imagination fiktiver Welten

Dieses Vorurteil speist sich aus der Nähe vieler Computerspiele zu Filmen, wenn sie durch audiovisuelle Gestaltung und durch komplexe Geschichten beeindrucken. Beide medienästhetischen Aspekte lassen sich zudem gut weiterverarbeiten; Bilder eignen sich für Screenshots, kurze Ausschnitte für Videos, die Geschichten können in Trailern präsentiert werden. Spiele erscheinen in diesem Diskurs als interaktive Filme, die ihrerseits den Fluchtpunkt und die Zukunft der Spiele markieren. Aus Sicht einer Computerspielwissenschaft hat diese Sicht Vor- und Nachteile. Vorteilhaft ist, dass mit Verweis auf Literatur-, Film- oder Medienwissenschaften leichter erklärt werden kann, was denn eine geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit Spielen eigentlich vorhat, wenn es schon nicht um Wirkungsforschung oder Lernspiele gehen soll. Nachteilhaft ist, dass der mediale Gehalt von Spielen damit bevorzugt in den audiovisuellen Gestaltungen und multimedialen Erzählräumen gesucht und gefunden wird, ein Forschungsschwerpunkt, der eng mit der inzwischen gut 20-jährigen Geschichte der Game Studies verbunden ist.

3. Was Game Studies sind

Die erste Generation von Autor:innen zeichnete sich ab Mitte der 90er-Jahre noch durch medien-kulturtheoretische Zugriffe aus, ohne dass ein systematischer und umfassender Bezug zu konkreten Spielen hergestellt wurde bzw. werden konnte. Computerspiele, so schien es, waren ein faszinierender Gegenstand, der vor allem von außen beobachtet und beschrieben wurde, für deren Beschreibung aber nicht nur die Vorarbeiten und damit die notwendigen Methoden fehlten, sondern vielfach auch das nachhaltige Interesse an der aktiven Rezeption. Es wurde zwar viel über Spiele geschrieben, aber nur wenig gespielt. Viele dieser Autor:innen haben sich im Folgenden daher wieder von den Spielen abgewandt und ihre Interessen auf andere Bereiche verlagert. Ihre grundlegenden Texte aber inspirierten eine nachfolgende Generation, die sah, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit einem ihnen bekannten Medium durchaus unbekannte Facetten freilegen kann.

Diese zweite Generation, mit Publikationen ab ca. Mitte der 00er-Jahre, ist mit Computerspielen aufgewachsen und greift auf ein umfassendes Repertoire zurück, das nun, nach einer grundständigen literatur-, theater-, film- oder medienwissenschaftlichen Ausbildung, mit den erlernten Methoden erschlossen wird. Neben den narratologischen und kulturwissenschaftlichen Konzepten der ersten Generation treten seitdem verstärkt bildtheoretische, narratologische und performative Betrachtungen auf den Plan, womit die Game Studies sich in die Traditionslinie der Film-, Bild- und Theaterwissenschaften stellt, von der sie sich unter Rückgriff auf Konzepte wie Interface, Interaktivität, Immersion oder Partizipation nach und nach emanzipiert.

Die große Lücke dieser Forscher:innen-Generation ist das Ausblenden des technischen und des ludischen Charakters von Spielen, wofür es in der Filmwissenschaft kaum Vorarbeiten gibt, die sich fruchtbar auf Spielanalysen anwenden ließen. Computerspiele sind nach interaktiven Geschichten nun auch interaktive Bilder, das Medium erschließt sich mit diesen Betrachtungen aber nur zum Teil.

Zwar werden ludische Aspekte von manchen Autor:innen der skandinavischen und in Folge auch der amerikanischen Game Studies untersucht, aber mehr als erste Annäherungen an diese Untersuchungen sind in den deutschsprachigen Game Studies bislang nicht zu entdecken. Dies hängt sicherlich mit der fehlenden institutionellen Einbettung zusammen sowie damit, dass die Game Studies in Deutschland weiterhin vor allem vom Mittelbau in der Qualifikationsphase getragen werden. Deren Betreuer:innen, Mentor:innen und Gutachter:innen stehen den Spielen nicht selten fern und erwarten eine solide Verankerung der Abschlussarbeiten in ihnen bekannten Diskursen, die aus den erwähnten Wissenschaften zitiert werden.

Das ist kein grundlegendes Problem, auch die Filmwissenschaft hat sich viele Jahrzehnte auf die visuelle und narrative Seite ihres Gegenstands konzentriert und die akustischen und materiellen Aspekte weitgehend ausgeblendet. Problematisch für eine Computerspielwissenschaft wird die Vernachlässigung der ludischen Dimension, der Spielregeln und -mechaniken, wenn die Informatik beteiligt ist, die sich genau um die technische Umsetzung von Regelsystemen in Form von Algorithmen und Datenstrukturen kümmert. Eine interdisziplinäre Computerspielwissenschaft, die mehr sein will als ein Nebeneinander verschiedener Disziplinen, muss den Dialog auch darin suchen, die Methoden des einen Fachs auf die Gegenstände des anderen anzuwenden. In unserem Fall bedeutet dies, den Bereich Game Design ernst zu nehmen und Bedeutungsangebote gerade auch in ludischen Systemen zu suchen.

Dies ist keineswegs ein Bekenntnis zu einer Ludologie, die sich von einer Narratologie abzugrenzen versucht. Das Aufrufen dieser Debatte, die nie stattgefunden hat und dennoch oder gerade deswegen noch bis heute in zahllosen Seminar-, Bachelor- und Masterarbeiten in immer gleicher Weise wiederholt wird, ist nicht mehr zeitgemäß und die Qualität bzw. Aktualität eines Game-Studies-Seminars bemisst sich m. E. auch daran, ob und wie sie dort behandelt wird. Insofern ist es ein Vorurteil der Game Studies, dass Narration und Ludition – außerhalb dreier rabulistischer Aufsätze, die immer wieder als Belege zitiert werden – irgendwo als gegensätzlich gesehen würden.

Bei der Untersuchung von Spielen geht es nicht um ein Entweder-oder, auch nicht um eine Hierarchie medienästhetischer Zugänge. Die ludische Seite von Spielen ernst zu nehmen bedeutet keineswegs, die audiovisuellen, narrativen und performativen Aspekte auszuschließen, sondern sie im Gegenteil als integrativen Bestandteil des Gesamterlebens einzubeziehen. Regelsysteme können dabei ihre eigene mediale Kraft entfalten, die aus Mangel an bewährten Methoden nicht vernachlässigt werden dürfen. Die Aufgabe einer Computerspielwissenschaft liegt auch darin, das medial Eigentümliche des Spiels zu erschließen, das sich gerade nicht in anderen Medien findet, und bei Bedarf die notwendigen Methoden dafür zu schaffen.

Medienverzeichnis

Literatur

o. A.: „Daddeln im Hauptseminar“. In: Süddeutsche Zeitung, 05.05.2015. <https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayreuth-daddeln-im-hauptseminar-1.2467617> [01.10.2021].

Titelbild

Longhi, Pietro : The Game of the Cooking Pot. ca. 1744.

  1. o. A.: „Daddeln  im Hauptseminar“. In: Süddeutsche Zeitung, 05.05.2015. <https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayreuth-daddeln-im-hauptseminar-1.2467617>  [01.10.2021].[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Koubek, Jochen: "Die Wissenschaft der Computerspiele. Eine Geschichte von Vorurteilen". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.10.2021, https://paidia.de/die-wissenschaft-der-computerspiele-eine-geschichte-von-vorurteilen/. [20.04.2024 - 13:20]

Autor*innen:

Jochen Koubek

Prof. Dr. Jochen Koubek studierte Mathematik, Philosophie und Informatik in Darmstadt und Bordeaux. Er promovierte in Kulturwissenschaft mit einer Arbeit über kulturelle Auswirkungen des Internets. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Informatik der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Forschungsschwerpunkt informatische Bildung. Seit 2009 ist er Medienwissenschaftler an der Universität Bayreuth mit dem Schwerpunkt Computerspiele, einem Medium, das alle der angeführten Disziplinen für eine angemessene Beschreibung erfordert.