Finales Erzählen in mittelalterlichen Heiligenlegenden und ‚What remains of Edith Finch‘

28. September 2018
Erstkorrektur: Thomas Müller / Zweitkorrektur: Franziska Ascher
Abstract: Das narrative Prinzip des ‚finalen Erzählens‘, das eine Erzählung vom Ende her motiviert, wurde bisher vor allem an vormodernen Texten untersucht und beschrieben. In ‚What remains of Edith Finch‘ als Computerspiel über den Tod und das Erzählen vom Tod wird diese Finalität zum entscheidenden narrativen Strukturprinzip. Die Verknüpfung von Inhalt und Erzählweise stellt dabei nur eine von vielen Parallelen zu mittelalterlichen Heiligenlegenden dar. Der Artikel untersucht Analogien der narrativen Struktur zwischen legendarischem Erzählen und ‚What remains of Edith Finch‘ und stellt sich dabei die Frage, wie das narrative Prinzip der Finalität in ganz unterschiedlichen Medien auch überzeitlich funktionieren kann. The narrative orientation of telling a story from the end (‘finales Erzählen’) has mostly been examined and described for premodern texts. ‘What remains of Edith Finch’ as a computer game about death and narrating about death sets this finality as its determining narrative structure. The resulting intertwining of storyline and narrative style is just one parallel that can be drawn to medieval stories about saints. The article aims to investigate analogies between these stories and ‘What remains of Edith Finch’ and raises the question how finality can function as a timeless narrative principle even in very different media.

Was haben mittelalterliche Heiligenlegenden mit Computerspielen, was hat What remains of Edith Finch mit Erzählungen von Leben und Tod von Heiligen zu tun? Im Folgenden werden narrative Prinzipien diskutiert, die genre- und zeitübergreifend in zwei ganz unterschiedlichen Medien angewendet werden. Die damit verbundene methodische Herangehensweise, ein Spiel als Text zu betrachten, mag dabei durchaus als problematisch erscheinen: konstitutiv für Computerspiele ist schließlich, dass eine Handlung oft erst im Prozess des Spielens entsteht, dass es also gerade kein einheitliches Narrativ gibt, sondern Narrativität vielmehr größtenteils durch die Spielenden zugeschrieben wird. 1 Seit den vielen cultural turns des 20. Jahrhunderts 2 traut sich die Literaturwissenschaft aber durchaus zu, kulturwissenschaftliche Phänomene mit literaturwissenschaftlichen Werkzeugen zu untersuchen und so soll im folgenden Artikel im Anschluss daran What remains of Edith Finch (2017) 3 als Text gelesen und mithilfe literaturwissenschaftlicher Instrumente untersucht werden. Einerseits stellen Textualität und mediale Vermittlung allgegenwärtige Themen des Spiels dar; seien es die Texte, in die der Spieler wortwörtlich eintaucht, oder die stetig visuell präsente Erzählerstimme. Andererseits eignet sich auch die relativ lineare Spielweise – die dem Spieler oft nur die Alternative bietet, ludisch mitzugehen oder eben nicht, im letzteren Fall das Spiel dann aber abbrechen zu müssen – besonders für eine literaturwissenschaftliche Herangehensweise. 4

Auch der zeitliche Abstand der beiden Gegenstände stellt nur auf den ersten Blick ein Problem dar. Was im Folgenden im Fokus stehen soll, ist ein narratives Verfahren, das vor allem an vormodernen Texten untersucht wurde – das aber durchaus auch in modernen Medien seine Anwendung findet. ‚Finales Erzählen‘, ein Erzählen vom Ende bzw. vom Tod her, ist ein charakteristisches Strukturmerkmal von Heiligenlegenden und von vormodernem Erzählen generell. Dass What remains of Edith Finch diese Erzählweise wählt, führte einerseits zu Irritationen in der Rezeption 5, war aber andererseits sicherlich auch ein Grund für die Faszination dieses Spiels. In der Gegenüberstellung von mittelalterlichen Heiligenlegenden und What remains of Edith Finch soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, sich dem Spiel aus einer zeitübergreifenden Perspektive zu nähern, die seiner „märchenhaften Erzählweise“ 6 entgegenkommt.

Die wunderbare Unausweichlichkeit der Geschehnisse wird mit der Erzählweise des finalen Erzählens konstruiert, ein Begriff, der unter anderem in der Legendenforschung beschrieben und diskutiert wurde. Er soll im Folgenden kurz erläutert werden, um im Anschluss auf die narrative Struktur von Heiligenlegenden und What remains of Edith Finch näher einzugehen.

Kontingenz und Finalität

Ganz allgemein lässt sich für das Erzählen eine Beobachtung festhalten, die so grundlegend ist, dass sie beinahe schon banal wirkt: Erzählen findet in einem skalierbaren Gestaltungsbereich zwischen den Polen Kontingenz und Finalität statt.

Einerseits wird in Erzähltexten notwendigerweise Kontingentes erzählt. 7 Etwas durchkreuzt menschliche Wünsche, Hoffnung, Planungen, ohne dass jemand es beabsichtigt hat:

Kontingenz wäre also Zufälligkeit im Sinne eines unabsehbaren Zusammentreffens unverbundener Kausalketten oder Handlungsfolgen[.] 8

Dinge, die sich unvorhergesehen ereignen, die sich plötzlich herausstellen: Das ist es, was die Beteiligung des Lesers (oder Hörers bzw. Spielers) weckt, was Interesse und Spannung erzeugt. Allein: Bleibt sie rein kontingent, so ist die Erzählung belanglos. Konsequent von kontingenten Ereignissen zu erzählen ist reizlos, wenn der übergreifende Sinnzusammenhang fehlt. 9

Für eine gelungene Geschichte braucht es also immer auch die Ebene der Finalität, damit das Erzählte auf etwas hinausläuft und nicht einfach unbefriedigend an beliebiger Stelle abbricht. 10 Finalität bezeichnet dabei eine absichtsvolle Zielgerichtetheit, die die Erzählung in allen Teilen auf ein feststehendes Ende hin vorantreibt. Entscheidend ist dabei, dass Finalität aus der Ebene des discours hervorgeht, also als narrative Markierung, nicht aus der Ebene der histoire 11.

Finalität kommt über die Struktur der Erzählung zustande, wenn der Ausgang bspw. narrativ hervorgehoben oder mit Sinn aufgeladen wird. Die Grenzen dessen, was als final angesehen werden kann, sind dabei sehr weitreichend:

Grundsätzlich kann das Finalitätsschema sehr weitreichend und wahllos eingesetzt werden: Es gibt eigentlich nichts, was sich nicht noch als ein betontes, sinnvolles Ende einer kontingent erscheinenden Ereignisfolge verstehen ließe. 12

Dies ist umso mehr der Fall, wenn der Erzählung die Vorstellung einer grundsätzlich geordneten Welt zugrunde liegt. Im Mittelalter ist das der ordo-Gedanke. Im Gegensatz zu den von Menschen gemachten Normen steht der ordo universi: die von Gott geschaffene Ordnung, in der jedes Geschöpf und Ding seinen festen, sinnhaften und vorherbestimmten Platz einnimmt.

Finalität ist also ein Erzählverfahren: Ereignisse, die auf der Ebene des Erzählten als kontingent erscheinen, werden auf der Ebene des Erzählens so angeordnet, dass sie auf das von Beginn an feststehende Handlungsziel hinauslaufen. 13

Es stellt sich nun die Frage, wie genau dies in einem Text umgesetzt wird. Die Frage, die in diesem Zusammenhang hilfreich ist, ist, wie das in einer Erzählung dargestellte Verfahren motiviert wird. 14 Die Forderung, Erzählungen ausreichend ‚von vorne‘ zu motivieren – also alle Geschehnisse kausal stimmig auseinander folgen zu lassen, sodass ein kohärentes Ganzes entsteht – findet sich schon bei Aristoteles. 15 Dass Ereignisse „nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit“ 16 aufeinander folgen sollen, wurde von der Antike über die Renaissance bis in die Poetiken des 18. Jahrhunderts 17 übernommen und stellt auch einen Grundsatz modernen Erzählens dar. Im besten Fall hat der Autor alle Handlungsstränge so angelegt, dass die Handlung ‚aus sich selbst heraus‘ entsteht. Kontingenz und Finalität sind harmonisch ausbalanciert: Nichts ist zu unwahrscheinlich, aber dennoch bleibt die Handlung nicht durchschaubar und am Ende bildet alles ein sinnhaftes Ganzes. Diese Motivierung wird auch kausale Motivierung genannt. Für moderne Leser bzw. Spieler stellt sie einen wichtigen Qualitätsanspruch dar, den wir an Geschichten – ob im Medium der Literatur oder in Spielen erzählt – haben.

Nun ist es aber immer wieder der Fall, dass in Geschichten ‚Bruchstellen‘ auffallen; Momente, in denen Ereignisse als nicht ausreichend motiviert erschienen. Clemens Lugowski untersuchte dieses Phänomen 1932 am vormodernen Erzählen, wo es besonders häufig – und aus moderner Sicht besonders irritierend – auffällt. 18 An frühneuzeitlichen Romanen beschrieb er die Fremdheit vormoderner Erzählkunst, in der eine ‚Motivation von hinten‘ der Motivation von vorne (kausalen Motivierung) gegenübersteht. Diese Motivation von hinten ist etwas, was für den Leser nur dann sichtbar wird, wenn ein ‚fehlendes‘ kausales Handlungsglied (meist negativ) auffällt.

Was meint der unbefangene Leser eines Romans, wenn er urteilt: die Motivierung dieses oder jenes Geschehens genügt meinem Gefühl nicht, sie ist nicht ausreichend. 19

Diese Erwartungshaltung des Lesers, die vom Text nicht erfüllt wird, kann entweder als defizitär verbucht oder aber als Erzählstil erkannt werden, der historisch entstanden ist und vom Dichter mutmaßlich nicht hinterfragt wird bzw. werden kann. Lugowski beschreibt diese Durchschaubarkeit des Erzählens als unhinterfragte Erzählweise der Vormoderne, die nur bedingt an der Darstellung einer kausal schlüssigen Ereignisabfolge interessiert ist. Worauf aber liegt dann der Fokus?

Betrachtet man mittelalterliche Heiligenlegenden, so wird schnell klar, dass hier etwas anderes bezweckt werden soll, als einfach eine klar stringente Geschichte zu erzählen. Grundsätzlich wird in Legenden das Leben – und der Tod – eines oder mehrerer Heiligen beschrieben. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Bekenner- und Märtyrerlegenden, die jeweils anders aufgebaut sind, geht auf Edith Feistner zurück.20 Dass diese Unterscheidung bei näherer Betrachtung zu schematisch ausfällt, wurde in der Forschung thematisiert 21, sie soll hier jedoch lediglich als grobe Orientierung dienen.

Beide ‚Typen‘ sind jeweils strikt auf das Ende der Erzählung hin ausgerichtet, nämlich auf den Moment, in dem die Heiligkeit des Heiligen erwiesen wird. In Märtyrerlegenden ist das der Märtyrertod, denn das Erleiden desselben reicht aus, um die Heiligkeit des Märtyrers zu beweisen. Wer sein Blut für Christus vergießt, das Martyrium erleidet, der folgt ihm als Blutzeuge nach und wird deshalb in den Kreis der Heiligen, die communio sanctorum, aufgenommen.

Aber auch die Bekennerlegende, in der Heilige oft zahlreiche Wunder wirken, bevor auch sie am Ende sterben, muss am Ende vom Tod des Heiligen erzählen. Dass jemand nämlich wirklich heilig geworden ist – also schon vor dem Jüngsten Gericht an der Seite Gottes sitzen darf 22 – kann erst nach dem Tod zweifelsfrei festgestellt werden. Befindet sich der Verstorbene nämlich als Heiliger im Himmel, so kann er als Fürsprecher vor Gott Wunder wirken. Auch seine Überreste sind mit göttlicher Gnade und himmlischer ‚virtus‘ regelrecht aufgeladen. 23 Werden also gemäß dieser Logik nach dem Tod Wunder (meistens Heilungswunder) im Umkreis des Leichnams oder nach Anrufung des Heiligen beobachtet, so gilt dies als Beweis für die Heiligkeit des Verstorbenen. In einem Heiligsprechungsverfahren wird der Heilige dann in den Kanon aufgenommen – seine Überreste sind damit offiziell Reliquien, die Heil transportieren und verfügbar machen können. Oft nimmt die Legende diese Wunder nach dem Tod schon vorweg; nicht selten wurden an die Lebensbeschreibungen Mirakelsammlungen angefügt, die Wunder am Grab des Heiligen aufführen. 24 Dies wird dadurch noch verstärkt, dass die Legende im Heiligsprechungsverfahren oft selbst als Beweisstück galt. 25

Diese zentrale Stellung des Todes bzw. des Endes ist für Heiligenlegenden absolut konstitutiv.

Nicht der Anfang, sondern das Ende der heiligen Protagonisten steht im Fokus, die Erzählung ist ausgerichtet auf deren Tod, während eine Vorgeschichte bisweilen vollkommen vernachlässigt werden kann. Wenn also dem narrativen Substrat von Märtyrerlegenden (Prozess, Folterungen und Tod) überhaupt noch etwas vorangestellt wird, dann dient dies ausschließlich der Bestätigung und Heranführung an den finalen Märtyrertod des Heiligen. 26

Die gesamte Erzählung ist nicht darum bemüht, kausal schlüssig zu sein, sondern auf das Ende hinzuführen, es paradigmatisch zu spiegeln und zu bestätigen. Der Tod von Heiligen und der Erweis von Heiligkeit stehen damit auch schon von Anfang an fest:

[D]ie Gattung Legende [beruht] aufgrund ihrer Einbettung in religiöse Praxis auf einem konstitutiven Ausschluss von Erzählalternativen: Vom Heiligen kann in der Legendendichtung des Mittelalters nicht erzählt werden, dass er (oder sie) nicht heilig ist bzw. ‚wird‘. 27

Heiligkeit ist damit nicht „erst eine bloße Folge des Martyriums, sondern wird vom Tod nur noch vollends bestätigt, ist sie doch schon von Anfang an angelegt, so dass der Heilige paradoxerweise nun wird, was er immer schon gewesen ist.“ 28 In einer Welt, die grundsätzlich vom Willen Gottes geprägt ist, liegt der letzte Kontingenzrest nur noch in der Entscheidung für den Märtyrertod bzw. das Leben als Bekennerheiliger. Der Ausgang dieser Entscheidung liegt aber stets schon fest und wird durch das über der Logik der Handlungsebene stehende Erzählprinzip vorgegeben. 29

What remains of Edith Finch

Auch What remains of Edith Finch kreist beständig um den Tod. Im Hintergrund steht hier allerdings nicht der Nachweis von Heiligkeit, sondern das Narrativ eines Familienfluches, der die Finches seit Generationen heimsucht. 2017 vom Entwickler Giant Sparrow veröffentlicht, ist What remains of Edith Finch ein Adventure-Spiel aus der Ego-Perspektive. Der Spieler begibt sich aus der Perspektive der 17-jährigen titelgebenden Edith als letzte Überlebende der Finches auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte. Beim Erkunden des Familiensitzes folgt man den Spuren ihrer toten Verwandten und vollzieht deren Geschichten, die immer vom Tod des jeweiligen Familienmitglieds handeln, ludisch nach. What remains of Edith Finch wurde von der Kritik positiv aufgenommen; besonders die kreative Erzählweise 30 und die melancholische Stimmung 31 wurden hervorgehoben.

Dabei entzieht sich das Spiel einer sofort zugänglichen Interpretation, was unter anderem mit der verschachtelten Erzählstruktur und dem damit verbundenen ungewissen Verhältnis von Realität und Fiktion zusammenhängt. What remains of Edith Finch ist insofern ein Spiel über das Erzählen vom Tod, aber auch das Erzählen generell – und die damit verbundene Unzuverlässigkeit des Erzählers. 32

Ediths Geschichte beginnt mit einer klassischen Quest: Ihre Mutter hat ihr einen Schlüssel hinterlassen und es liegt nun an Edith, das passende Schloss zu finden. Sie besucht dazu das seit Jahren verlassene Anwesen der Finches, in dem sie bis zum Alter von 10 Jahren zusammen mit ihrer Mutter Dawn und ihrer Urgroßmutter Edith – genannt Edie – aufgewachsen war. Das zentrale Motiv der Genealogie wird im Stammbaum der Finches visualisiert, der über das Pausenmenü aufgerufen werden kann. Edith trägt darauf die Porträts und die Geburts- bzw. Todesjahre der Familienmitglieder ein, deren Geschichten sie nach und nach erschließt (s. Abb. 1).

Abb. 1: Stammbaum der Finches (Screenshot aus ‚What remains of Edith Finch‘ (2017) )

Nach dem Tod der beiden Brüder Ediths entschloss sich Dawn dazu, das Haus mit dem noch lebenden Kind zu verlassen. Edie starb noch in der Nacht der Abreise – im Verlauf des Spiels wird ihr Suizid impliziert. Edith macht sich also nun aus einer Situation der Isolation und Einsamkeit auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte, ihrer Identität. Forciert wird das durch die Tatsache, dass Edith schwanger ist – und damit selbst gerade aktiv ihre Familiengeschichte fortschreibt.

Zunächst muss aber ein Schritt zurückgegangen werden. Das Spiel selbst setzt nämlich nicht mit Edith ein, sondern – wie sich zum Schluss herausstellt – ihrem Sohn, der das an ihn adressierte Tagebuch Ediths liest (s. Titelbild). Bei Ediths Geschichte handelt es sich also um eine Analepse, in die sich weitere Analepsen einfügen.

Während wir von Spielen normalerweise eine einigermaßen strikte Trennung des ‚Paratexts‘ (zu dem z. B. das Hauptmenü gehört) und der ‚Spielwelt‘ 33 (in der sich die Figuren des Spiels bewegen) kennen, wirft uns What remains of Edith Finch beim ersten Spielen sofort in die Handlung, ohne Umweg über ein Hauptmenü. Die Paratexte des Spiels (Titel und einleitende Musik) sind beide in die Spielwelt integriert worden: Der Titel des Spiels bleibt in der Welt über dem Horizont schweben, die Orgelmusik zu Beginn geht in das Röhren eines Schiffhorns über.

Auch im Menü, dem Stammbaum der Finches, der nach und nach vervollständigt wird, findet eine Vermischung von Paratext und Spielwelt statt: Einerseits gestaltet Edith den Stammbaum aktiv selbst, andererseits hebt er sich als Menü auf eine Ebene über der Spielwelt ab. Die Trennungen zwischen Handlung und Paratexten werden als durchlässig inszeniert, die Handlung scheint auf die Paratexte des Spiels gewissermaßen überzugreifen.

Überblendungen zwischen den verschiedenen Ebenen (Spielwelt und Paratexte, aber auch zwischen den verschiedenen Handlungsebenen) finden sich immer wieder im Spiel und werden meist über verschiedene Dokumente (z. B. Tagebücher, Briefe) bzw. die Stimmen der Autoren vermittelt. So wird auch die Stimme Ediths aus dem Text ihres Tagebuchs heraus lebendig und bleibt, so wie alle Stimmen, auch stets visuell präsent (s. Abb. 2).

Diese Präsenz erinnert daran, dass wir uns – strenggenommen – in einem Text befinden. Auch Vorwegnahmen der Erzählstimme weisen darauf hin, dass dieser Text im Moment des Spielens schon fertig geschrieben ist. Gespielt wird also streng genommen nicht aus der Perspektive Ediths, sondern die Imagination ihres Sohnes, der in einer Analepse seine Mutter aus ihrem Tagebuch heraus lebendig werden lässt. Ich bezeichne diese Ebene (Ediths Geschichte) als 2. Handlungsebene 34.

Schon an dieser Stelle zeigt sich allerdings auch die Schwierigkeit, diese Geschichten zu erzählen. Edith beginnt ihre Geschichte nach durchgestrichenen Anfängen („My family never seemed strange to me when I was growing up”) mit einem ‚Disclaimer‘, einer Distanzierung: „A lot of this isn’t going to make sense to you, and I’m sorry about that“ – eine Absage an ein Erzählen, das primär an kausallogischen und faktualen Zusammenhängen interessiert ist. Der Versuch, in kontingenten Ereignissen – der Tatsache, dass Edith mit 17 Jahren, schwanger, vollkommen allein auf der Welt ist – einen Sinn zu finden, gestaltet sich alles andere als einfach. Auf der Suche nach einem Sinnzusammenhang, Finalität, wenn man so will, entdeckt Edith zwar nach und nach die Geschichten ihrer Familienmitglieder. Ihr Versuch, sich über die Vergangenheit eine Zukunft zu erarbeiten, trifft aber auf ein großes Problem: Der Sinnzusammenhang, der angeboten wird, ist keiner, der einen Neuanfang erlauben würde.

Alle Geschichten, die Edith rezipiert, enden mit dem Tod ihrer Protagonisten. Ihr Ende steht damit schon von Beginn an fest. Aber nicht nur das: Die Geschichten beeinflussen auch die Geschichte Ediths. Sie folgt ihren Familienmitgliedern im wörtlichen Sinne nach, wenn sich in den Geschichten Wege eröffnen, denen Edith anschließend folgen kann. Je mehr Geschichten Edith rezipiert, desto klarer wird zudem auch, dass ihre eigene Geschichte am Ende selbst mit ihrem Tod enden wird. Edith begibt sich damit in eine Nachfolge, die ähnlich wie in Heiligenlegenden inszeniert wird. Gemeint ist das Prinzip der imitatio.

Für die Literaturwissenschaft fruchtbar machte den Begriff André Jolles. Wenn sich in der Legende in einem Heiligen Tugend vergegenständlicht, spielt die imitatio dabei eine entscheidende Rolle: Einerseits eifern die Heiligen Christus nach, gleichzeitig aber auch der/die Leser bzw. auch Figuren in der Legende dem Heiligen. 35

Der Heilige […] ist eine Figur, in der seine engere und seine weitere Umgebung die imitatio erfährt. Er stellt tatsächlich denjenigen dar, dem wir nacheifern können, und er liefert zugleich den Beweis, daß sich, indem wir ihn nachahmen, die Tätigkeit der Tugend tatsächlich vollzieht. Er ist als höchste Stufe der Tugend unerreichbar und liegt in seiner Gegenständlichkeit doch wieder in unserem Bereiche. Er ist eine Gestalt, an der wir etwas, was uns allseitig erstrebenswert erscheint, wahrnehmen, erleben und erkennen und die uns zugleich die Möglichkeit der Betätigung veranschaulicht – kurz, er ist im Sinne der Form ein imitabile. 36

Diese Überlegungen Jolles', die Legenden allein auf deren rezeptionsästhetischen Aspekt reduzieren, wurden in der Forschung zu Recht kritisiert. Hammer weist darauf hin, dass Legenden selbst schon ein Produkt einer narrativen imitatio sind, ihre Erzählelemente stehen in Bezug zu biblischen Erzählmustern, aber auch anderen Legenden. 37 Imitatio kann also nicht nur auf der Ebene der Rezeption oder der Handlung stattfinden, sondern auch auf der Erzählebene.

Beispielhaft lässt sich das an der Andreaslegende des Passionals 38 aufzeigen. Andreas steht als Apostel ohnehin in einer engen Nachfolge-Beziehung zu Christus. In der Legende werden an Andreas darüber hinaus Elemente der Lebensbeschreibung Christi gespiegelt39: Er zieht mit einer Schar Anhänger durch das Land, predigt und erleidet schließlich das Martyrium am Kreuz. Dieses ist erzählerisch sehr eng an der Kreuzigung Christi orientiert: So wird Andreas mit scharfen besmen 40 geschlagen und anschließend ans Kreuz gebunden. Es gibt noch weitere Parallelen der Motivik, die sich hier aufzählen ließen: das Trinken am Kreuz, das Verteilen der Gewänder etc. Andreas erwartet seinen Tod freudig in der Nachfolge Christi; so sehr, dass er sich weigert, wieder abgenommen zu werden und betet, nicht fortgelassen zu werden von dem cruce 41. Er kann nun nicht mehr vom Kreuz gelöst werden, sein Martyrium ist nicht mehr aufzuhalten.

Die Finalität der Handlung steht schon zu Beginn fest, offenbart sich aber vollständig erst im Verlauf der Handlung: Als Apostel und Heiliger steht Andreas quasi doppelt in der direkten Nachfolge Christi und so ist sein Märtyrertod auch, einmal begonnen, in seiner Finalität nicht mehr aufzuhalten. 42 Es ist aber nicht nur die Handlung, die so von der imitatio Christi beeinflusst wird, sondern auch die Art des Erzählens.

In What remains of Edith Finch lässt sich diese doppelte imitatio ebenfalls nachvollziehen, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist das Haus der Finches (s. Abb. 2).

Abb. 2: „The house was exactly like I remembered it. The way I’d been dreaming about it.“ (Screenshot aus ‚What remains of Edith Finch‘ (2017) )

Dass Räume auf ein Narrativ hin ausgerichtet sind, ist in Videospielen eher die Regel als die Ausnahme – interessant ist hier, dass das Haus die tragischen Geschichten der Finches spiegelt. Als Kind kam das Haus Edith unheimlich vor („It made me uncomfortable in a way I couldn’t put into words“). Indem sie ihre Geschichte aufschreibt, findet sie nun diese Worte: „I was afraid of the house“. Angesichts seiner Bizarrheit ist das auch kein Wunder. Die Räume aller verstorbenen Familienmitglieder wurden zum Zeitpunkt des Todes effektiv in Grabkammern umgewandelt, sodass Räume für die noch Lebenden in der Vertikale ergänzt werden mussten. Die Zimmer der Toten blieben unverändert und wurden von Edie, der Urgroßmutter Ediths, zu Orten der Erinnerung, der memoria, umgestaltet. So verwundert es auch nicht, dass die darin aufgebauten Gedenkschreine an Altäre erinnern. Nachdem Dawn die Räume versiegelte, installierte Edie Gucklöcher – der Spieler hat also die Möglichkeit, ins Grabmal hineinzuschauen.

Diese Sichtbarkeit in Verbindung mit der gleichzeitigen Abgeschiedenheit der Erinnerungsgegenstände erinnert stark an den katholischen Reliquienkult, in dem die Reliquien ebenfalls als Kultgegenstände sichtbar sind (z. B. in der Monstranz, oder in geöffneten Särgen), gleichzeitig aber ebenso unzugänglich bleiben, um ihre Sakralität (im Unterschied zum Gewöhnlichen, Profanen) zu markieren. Viele Legenden erzählen von den Wundern, die im Zusammenhang mit einem, oft unversehrt gebliebenen, also nicht verwesten,43 Körper bzw. Reliquien stehen, im Passional z. B. bei Gervasius und Protheus, Adrian, Julianus oder Stephanus. Meistens handelt es sich dabei um Heilungswunder. In der Stephanuslegende heißt es beispielsweise:

vor deme heilictume

des heiligen herren Stephani

wurden si ires leiden vri,

und des libes wol gesunt 44

Die Präsenz von Körpern kann allerdings auch problematisch werden. Als Gegenbegriff zur Legende führte Jolles den Begriff der ‚Antilegende‘ ein:

„[S]o muß es andererseits in derselben Form Gestalten geben, in denen das Verbrechen meßbar, greifbar, faßbar wird und in denen sich das Böse, das strafbare Unrecht, in derselben Weise vergegenständlicht. […] Dem Heiligen muß ein Unheiliger, der Legende eine Antilegende gegenüber stehen.“ 45

In der Antilegende zeigen sich demnach legendarische Erzähl- und Handlungsmuster, aber unter einer umgekehrten Semantik.

In der Pilatuslegende, die im Passional direkt an das Passionsgeschehen angelagert ist, wird das Leben des Statthalters Pilatus geschildert, der Christus zum Tode verurteilte. Pilatus' Schicksal ist am Ende ebenso vorherbestimmt wie das der Heiligen: Als Brudermörder greift er das Rollenmuster Kains auf, seine Anlage zum Bösen zeigt sich schon als Kind und sein letztendlicher Selbstmord bringt nur konsequent zu Ende, was schon zu Beginn an festgelegt war – ein böses Ende für ein böses Leben. Besonders interessant sind die Überreste Pilatus', die nach seinem Tod zum Problem werden. Der Leichnam wird komplementär zur Heiligenlegende als vervluchte[r] lichamen/ beide swach und unrein 46 bezeichnet. Die Vorzeichen der Legende werden hier umgekehrt, der unversehrte, reine, oft auch wohlriechende Körper verkehrt sich zu einem schlechten und bösen Objekt, das nun statt Heil Unheil transportiert. Mehrfach muss er umgelagert werden, da seine Präsenz Teufel und üble Geister anzieht, die für die Menschen der Umgebung zum Problem werden.

sie schufen in den vluten
sturmen und wuten;
blicschoz mit donerslegen
begonden sie do vil erwegen.
die lute die da waren bi
wolden disses werden vri.
47

Stürmisches Wasser und Unwetter sind die Folge der unheilvollen Präsenz von Pilatus' Überresten und die Menschen der unmittelbaren Umgebung wollen ihn dementsprechend loswerden. Wer hier für die protestierende Natur verantwortlich ist, ist völlig klar, Pilatus' Körper wird hier beinahe als widernatürlich dargestellt. Er muss schließlich in einem abgelegenen Sumpf im Gebirge regelrecht entsorgt werden, doch selbst hier entfaltet er weiterhin seine verhängnisvolle Wirkung. Die abschließenden Worte der Legende stehen komplementär zur normalerweise am Ende von Heiligenlegenden stehenden invocatio, der Anrufung des entsprechenden Heiligen und dem Aufruf zur Verehrung. Statt herausragender Tugend wird hier aber die Bosheit und Verfluchtheit Pilatus' rekapituliert, statt als Vorbild dient er als abschreckendes Beispiel:

sus gienc ez an Pylate,
dem bosen, dem unnutzen
48

Hervorzuheben ist, dass Pilatus seine Wirkmacht bis in die Gegenwart der Erzählung entfaltet: noch biswilen 49 wird von seiner Verfluchtheit berichtet. daz er gar vervluchet ist 50, ist ebenfalls im Präsens formuliert. Statt ewigem Heil werden hier ewiges Unheil, ewige Verdammnis inszeniert, die ebenso körperlich transportiert werden. Physische Nähe ist ein entscheidendes Kriterium für den Transport transzendenter Einflüsse – sei es Heil oder Unheil.

Statt Körper bleiben als Überbleibsel der Finches nur Räume – und Geschichten. Vom Einfluss dieser Relikte bleiben die überlebenden Finches allerdings trotzdem nicht frei. Das Motiv des Familienfluchs zieht eine Linie vom ältesten genannten Finch, Odin, bis hin zu Edith, dies aber nicht nur über genealogische Verknüpfungen, sondern auch über physische Präsenz, vor allem im Haus. Neben den genannten zu Grabkammern umgestalteten Räumen ist da zum Beispiel der Kamin zu nennen, zu dem Edith kommentiert: „Even the fireplace had a story. Edie told me, the bricks came from the original house, after it sank.“ Das alte Haus der Finches kam mit der Familie aus Norwegen – Odin Finch segelte es mit Tochter, Schwiegersohn und der Enkelin Molly nach Washington, wo es allerdings vor der Küste mitsamt Odin versank. Nach wie vor liegt es im Meer; bei Ebbe ragt das Dach weit sichtbar aus dem Wasser.

Die Familientragödien bleiben damit visuell auch Generationen später noch stets präsent. Dass die Ziegelsteine aus dem alten Haus ins neue getragen werden, stellt eine Anknüpfung an die Familientradition – und damit den Familienfluch – dar. An mit Bedeutung aufgeladenen Objekten, seien es tote Körper oder relevante Gegenstände 51, ‚klebt‘ gewissermaßen Heil (oder Unheil). Sie stehen damit metonymisch nicht nur für Heilige, sondern für Heiligkeit – und damit einer Verbindung zu Gott – an sich.

Neben physischen Objekten sind aber auch die Geschichten über Heilige als mit Heil aufgeladene Überbleibsel zu verstehen. Die Legende hält als solche die Verbindung zwischen Überrest und übernatürlichem Einfluss präsent und aktuell, bestätigt einerseits die Wirkmacht der Reliquie und bezieht gleichzeitig ihre eigene Legitimation aus der Wirkmacht des Objekts (und den daraus resultierenden Wundern). Die Konstellation im Haus der Finches ist eine ganz ähnliche; nur dass hier nicht Heil, sondern ein Fluch übertragen wird (so wie bspw. in der Pilatus-, oder auch in der Judaslegende). Dass alle Finches auf merkwürdige, unwahrscheinliche Art und Weise sterben, wird explizit nicht als Zufall gedeutet – so wie auch Zufälle in Legenden als Wunder oder zumindest von göttlicher Providenz geleitet interpretiert werden. Heilsvermittlung wird an dieser Stelle ins Negative gewendet. Statt göttlicher, letztlich wohlwollender, alles zum Guten wendender Providenz wirkt hier ein nicht näher auserzählter Fluch. Die Deutung der Tode als Bestätigung dieses Familienfluchs dient dabei als Kontingenzbewältigung und bildet das grundlegende Narrativ aller Geschichten, die Edith rezipiert.

Am Beispiel von Edie und Dawn manifestiert sich der unterschiedliche Umgang mit diesem Narrativ: Auf der einen Seite steht ein(e) auf die Spitze getriebene(r) Erinnerungskult(ur), auf der anderen die Flucht davor. Edith steht nun genau in der Mitte: „I had questions only the house knew the answers to”. Diese Anthromorphisierungen des Hauses und des Anwesens werden immer wieder thematisiert („The woods had always been uncomfortably silent. As if they’re about to say something, but never do“, „Nothing in the house looked abnormal, there was just too much of it. Like a smile with too many teeth“).

Das Haus an sich befindet sich in einem merkwürdigen Zustand der Überzeitlichkeit. Trotz jahrelangen Leerstands sehen die Zimmer genauso aus wie am Abend des Abschieds von Dawn und Edith, selbst Essensreste sind nicht verfault, sondern bleiben unversehrt. Dies ließe sich einerseits darauf zurückführen, dass der Spieler das Haus eigentlich nur aus der Imagination des Sohnes zu sehen bekommt, der das Haus anhand der Worte seiner Mutter lediglich in seiner Vorstellung erkundet. Das Haus wirkt aus der Zeit gefallen, weil Edith es so beschreibt. Andererseits spiegelt sich in diesem Anhalten auch der Umgang der Finches mit dem Tod. Indem die Zimmer mit dem Tod des jeweiligen Familienmitglieds zu Gedenkstätten umfunktioniert werden, werden sie gewissermaßen eingefroren und geben ihre Funktionalität für die lebenden Familienmitglieder auf. Besonders kontrastiert wird das im Zimmer der Zwillinge Calvin und Sam. Mit Calvins Tod als kleinem Jungen bleibt seine Hälfte des Zimmers unberührt, während Sam in der anderen Hälfte erwachsen werden muss, mit stetigem Blick auf die Überreste des Todes, eine beständige, erzwungene memoria.

Johannes Binotto beschreibt mit Rückgriff auf Freuds Abhandlung über das Unheimliche 52 diesen Effekt als merkwürdiges Umschlagen von Vertrautem ins Gegenteil und umgekehrt:

Die fürs Unheimliche so typische Wiederkehr des Verdrängten wird […] zu einer Wiederkehr zum Verdrängten. […] Unheimlich ist weniger das, was an einem bestimmten Ort (wieder) angetroffen wird, als vielmehr der Ort selbst und dessen eigentümliche räumliche Situierung, welche die Wiederkehr des Verdrängten erst möglich macht. 53

Das Haus der Finches und seine „eigentümliche räumliche Situierung“ entfalten sich erst im Laufe von Ediths Geschichte. Was ihr zunächst als vertraut erscheint, offenbart nach und nach bisher verborgene Geheimnisse. Das Haus ist von Geheimgängen durchzogen und auch der Keller des Hauses birgt einen bisher unbekannten Onkel – eine räumliche Spiegelung des Motivs des Ungesagten und Verdrängten. Vor allem aber sind es die Toten, die gleichzeitig vertraut und doch in ihrer Zeitlosigkeit fremd sind; und das gesamte Haus hat diesen Zustand des Außerzeitlichen aufgenommen.

Haus und Grundstück (inklusive des Familienfriedhofs) sind nicht nur unheimlich, sie sind auch stark symbolisch aufgeladen. Sie stehen metonymisch 54 für den Tod, für das Unglück der Finches, für den Fluch. Interessant ist, dass Edith das auch selbst rezipiert, obwohl dieser Zusammenhang eigentlich auf der Erzählebene verortet ist. Das ist deswegen möglich, weil die Geschichten, die sie nacherlebt, diese Verknüpfung ebenfalls – mal mehr mal weniger explizit – thematisieren. 55 Was auf der Erzähl- und der Handlungsebene geschieht, wird hier gespiegelt. Man könnte auch sagen: Das Erzählprinzip ‚ragt‘ in die Handlung hinein (oder umgekehrt). Im Folgenden werde ich darauf zurückkommen.

Einer der ersten Räume, die Edith betritt, ist der ihrer Großtante Molly. Wie auch Ediths wird Mollys Geschichte über ein Tagebuch vermittelt. Die 2. Handlungsebene wird damit um eine 3. Handlungsebene erweitert: Die Geschichte Mollys (und die der anderen Familienmitglieder) stellt damit eine Analepse in einer Analepse dar. Alle Geschichten sind final auf den Tod des entsprechenden Familienmitglieds ausgerichtet, auf den die Handlung unausweichlich zusteuert – es ist nicht möglich, diese Geschichten anders als mit dem Tod zu beenden, ähnlich wie in den bereits genannten Heiligenlegenden.

Auf der Spielebene manifestiert sich das in der nicht vorhandenen Freiheit des Spielers. Wenn Molly sagt „I looked around for something to eat” ist das auch alles, was getan werden kann (außer das Spiel wird abgebrochen – die Handlung bleibt dann aber einfach stehen, eine Alternative eröffnet sich nicht) – selbst wenn das, was er findet, giftig ist. Der Spieler kann nur tun, was schon passiert ist; „[d]er Heilige [wird] paradoxerweise […] das, was er immer schon gewesen ist“ 56; und auch Molly kann nur das werden, was sie schon ist – nämlich tot.

Damit wird eine Erzähllogik aufgemacht, die ihren eigenen Sog zu entfalten scheint. Dass alle Geschichten mit dem Tod enden, wirkt auch deswegen so unvermeidlich, weil alle so ausgehen – jeder Tod bestätigt das Erzählprinzip, dem sich wiederum auch alle folgenden Geschichten unterordnen. Dass alle Finches sterben, liegt damit nicht nur an einem vage referenzierten Fluch – sondern vor allem an den Geschichten über den Tod. In dieser Welt kann nicht anders über die Finches erzählt werden als von ihrem Tod zu erzählen. Die Logik der Handlungsebene wird damit zur Logik der Erzählebene und umgekehrt. Die Wirklichkeit der Spielwelt ordnet sich dem Erzählprinzip der Finalität unter.

Die einzelnen Episoden machen dabei keinen Hehl daraus, dass sie sehr subjektiv gefärbt sind; im Angesicht des Todes schlägt die Fantasie der Finches hohe Wellen. Bezeugt wird dabei nicht, dass die Geschichte genauso stattgefunden hat (Edith über Mollys Geschichte: „I’m not sure if I believed all of that. But I’m sure Edie would have“, oder: „I think the people in these stories believed them, for what that’s worth“) – bezeugt wird, dass die Geschichte stattgefunden hat und dass es einen Fluch gibt, der für die Tode verantwortlich ist.

Inszeniert werden sie dabei mit ganz unterschiedlichen ludischen Mitten, die jeweils figural geprägt sind. In den bisherigen Ausführungen zu Heiligenlegenden wurde vor allem auf deren Gemeinsamkeiten und das grundlegende finale Erzählprinzip eingegangen. Es wäre hier zu betonen, dass legendarisches Erzählen auch immer am einzelnen Typus hängt, dass also jede Legende ‚ihren‘ jeweiligen Heiligen anders inszeniert. Darin liegt, bei aller Stereotypie von Legenden, eine figural motivierte Individualität, die sich – wie in What remains of Edith Finch – nicht nur auf der Ebene des Erzählten, sondern auch auf der Ebene des Erzählens niederschlägt. 57

Die zirkuläre Begründungsstruktur der Geschichten vom Tod, die die Wirkmacht des Fluches aufzeigen, der selbst wiederum neue Tode und damit neue Geschichten verursacht, ist auch etwas, was für Heiligenlegenden charakteristisch ist. Wunder, Legende und Heilsgeschichte bestätigen sich gegenseitig: Sie bilden ein Ganzes, dessen einzelne Teil alle mit der Bedeutung des gesamten Kontexts aufgeladen sind.

Am Beispiel der Longinus-Legende lässt sich dieses Prinzip etwas weiter ausführen. Longinus ist der Soldat, der Christus am Kreuz die Lanze in die Seite stieß. Im Passional taucht er zweimal auf: einmal im Zusammenhang mit der Schilderung der Passion Christi, wo er namenlos bleibt (do nam ein alt ritter/ eine glevenie bitter,/ da mite er durch sin site in stach 58), das andere Mal im dritten Buch des Passionals, wo seine eigene Legende geschildert wird (III 215, 1 ff.). Als Longinus Christus die Seite öffnet, fließen daraus Wasser und Blut, die Longinus' kranke Augen heilen (daz blut lief nider an dem sper/ und ran im uf sine hant,/ davon er heiles entpfant 59. Er bekehrt sich daraufhin und erleidet schließlich selbst das Martyrium, in dessen Zuge auch sein Blut den ihn verurteilenden Richter von seiner Blindheit heilt.

Das Heilungswunder am Kreuz verursacht die Bekehrung Longinus', die wiederum sein Martyrium mit wieder einem Heilungswunder und der Bekehrung des Richters nach sich zieht. Dass die Wunder geschehen, wird auf Gottes bzw. Christus' Willen und Hilfe zurückgeführt:

do quam ez in rechter vuge

nach unsers lieben herren ger [...] 60;

wand er drinne gewan

von gotes helfe ein gut leben 61

Die Einflussnahme des Göttlichen in Form eines Wunders ist Anlass für Longinus und den Richter, die christliche Heilslehre zu akzeptieren – dass im Wunder die Existenz und wohlwollende Einflussnahme Gottes bestätigt wird, wird also auf der Ebene des Erzählten von den Figuren akzeptiert. Damit dienen sie aber auch als Vorbild für den Leser der Legende, der ebenso angehalten wird, diese Begründungsstruktur zu akzeptieren. Das wiederum ist nur möglich, wenn die Legende, die von diesem Wunder erzählt, als verlässliches Zeugnis angenommen wird – und sie muss zwangsläufig einen Wahrheitsanspruch haben, weil sie ein Zeugnis von der Allmacht Gottes abgibt. Die Legende wird so selbst mit Heil aufgeladen und kann dieses transportieren, ebenso wie das Wunder über die Legende immer wieder reaktualisiert wird – und mit dem Wunder die gesamte Heilsgeschichte.

In ähnlicher Struktur stehen die Tode der Finches, die Erzählungen darüber und der Familienfluch in einem logischen Zirkelschluss zueinander. Und auch der Spieler wird in diesen Kreislauf eingebunden, wenn er sich diese Tode ludisch erarbeiten muss. So wie die Legende auf ihre Rezipienten übergreift, so wird auch der Spieler in die Unausweichlichkeit des Geschehens eingebunden.

In What remains of Edith Finch wird die Existenz des Fluches nicht über unbestreitbare Wunder bestätigt – es ist ja ohnehin nicht ganz klar, was eigentlich passiert ist. Der Fluch zeigt sich vielmehr in der seltsamen Häufung der Tode. In Legenden gibt es neben den Wundern, die offensichtlich Naturgesetze verletzen, auch solche, die aus einer Reihe unwahrscheinlicher Koinzidenzen bestehen. 62 In der Faustinianus-Legende beispielsweise wird die Familie des Protagonisten zunächst verstreut, bevor sich alle – scheinbar zufällig – wiedertreffen. Den einzelnen Wiederbegegnungen haftet dabei „isoliert betrachtet nichts Übernatürliches an. Das Merkmal des Wunderbaren erhalten sie erst dadurch, daß sie nicht für sich selbst, sondern im Zusammenhang mit anderen Ereignissen als Teil einer übergreifenden Fügung verstanden werden.“ 63 In der Reihung, bzw. auch hier wieder der Interpretation, wird aus dem Zufall ein Wunder. So bestätigt schon der einzelne Zufall das große Ganze der Heiligkeit des Protagonisten, der Allmacht Gottes und der Gültigkeit der Heilsgeschichte, indem metonymisch erzählt wird. 64

Auch im Spiel sind diese ‚wunderbaren Koinzidenzen‘ in der Summe eben nicht nur Zufall, sondern das Ergebnis eines Fluches. Und so steht im Kontext des gesamten Spiels schon eine einzelne Episode, ein Detail im Haus oder ein Kommentar Ediths metonymisch für ein Erzählen, was unvermeidlich auf den Tod hinausläuft – und das sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Erzählebene.

Die immense Wirkmacht von Geschichten über den Tod wird auch in verschiedenen Legenden thematisiert: Als Beispiel wäre hier noch die Lucia-Legende zu nennen. Dass Lucia sich auf die Pilgerreise zum Grab der heiligen Agatha macht, wird durch die Geschichte von Agatha und ihrer Tugendhaftigkeit ausgelöst:

nu vloch in der selben zit
daz mere beide her und dar, […]
von Agathen, der gotes maget 65

Dass Lucia, dort angekommen, ihre eigene Heiligkeit von Agatha offenbart wird, ist an dieser Stelle nur noch Formsache. Mit der Rezeption ihrer Geschichte und der Pilgerfahrt zum Grab ist Lucia schon in eine imitatio eingetreten und diese imitatio bedeutet für sie, dass sie ebenso wie Agatha nach der Weigerung zu heiraten den Märtyrertod erleiden wird.

Auch der Fluch der Finches wird, unter anderem, über Geschichten transportiert. Dass er seine Wirkmacht dabei als selbst-erfüllende Prophezeiung erhält, thematisiert Edith selbst:

I thought it was time I heard the stories for myself and found out what happened to everyone else. But now I’m worried the stories themselves might be the problem. Maybe we believed so much in a family curse… we made it real[.]

Die Finches sind, indem sie die Geschichten vom Tod am Leben erhalten und damit den Tod in ihrer Familie auf Dauer stellen, zu einer unabwendbaren imitatio, der Nachfolge ihrer Vorgänger, verdammt. Das trifft auch auf Edith selbst zu – sie folgt ihren toten Verwandten im wahrsten Sinne des Wortes nach, folgt den Wegen, den die Figuren in den Binnenepisoden vor ihr genommen haben. Und auch ihren eigenen Tod scheint sie vorauszuahnen: „I don’t know if I should even be writing this. Maybe it’d be better if all this just died with me“.

Sie thematisiert damit nicht nur den handlungsimmanenten Fluch und seine Fortführung in immer wieder wiederholten Schreibakten, sondern auch das übergreifende Erzählprinzip. So wie die Binnenhandlungen der 3. Handlungsebene immer nur vom Tod erzählen können, so läuft auch die Geschichte der Familie (und des Spiels!) – und damit Ediths – auf diese Finalität hinaus: Am Ende müssen alle sterben. Die Struktur des Spiels bietet keine andere Möglichkeit; auch Ediths Geschichte kann nur mit ihrem Tod enden. Zu erahnen ist das schon zu Beginn: Der Sohn Ediths liest aus ihrem Tagebuch, statt ihre Geschichte von ihr selbst zu hören und auch die Symbolik der weißen Lilien, die er in der Hand hält, weist schon von Beginn an auf den Tod hin.

In der letzten Episode des Spiels bringt dann auch Edith ihre eigene Geschichte zu Ende. In ihrem alten Zimmer angekommen, erzählt sie von ihrem letzten Abend im Haus. In dieser Binnenepisode kann der Spieler nun in eine weitere Geschichte eintauchen, nämlich eine Erzählung Edies. Hier wird das Erzählprinzip zum ersten Mal aufgebrochen – die Geschichte endet nämlich vorzeitig, als Dawn Edith das Buch Edies entreißt und das Haus mit ihr fluchtartig verlässt. Edie stirbt noch in der Nacht der Abreise und sieben Jahre später stirbt auch Dawn an einer Krankheit, womit wir uns wieder in der Ausgangssituation befinden: Edith ist allein und sucht nach Antworten.

Imitatio findet in What remains of Edith Finch auf verschiedene Art und Weise statt. Da ist einerseits der genealogische Bezug, der Edith mit ihren toten Familienmitgliedern verbindet, da ist andererseits die stete Präsenz ihrer Relikte: Räume, Dokumente, Stimmen und schließlich die Geschichten selbst. Dass Geschichten eine immense Wirkmacht entfalten können, wird nicht nur in den Legenden selbst thematisiert, sondern ist auch der Anspruch der Legenden selbst. Edith rezipiert quasi die Legenden ihrer Familie, tritt damit in eine imitatio ein und schreibt in diesem Prozess ihre eigene Legende, für die es nur ein Ende geben kann. Gleichzeitig bringt sie dabei die Geschichte ihrer Familie, und damit auch das Spiel, zum Abschluss. Das Spiel endet so schließlich mit dem Tod Ediths und der erneuten Überblendung in die Handlungsebene des Sohnes – die Geschichte wurde auserzählt, alle Kreise wurden geschlossen.

Zusammenfassung

What remains of Edith Finch ist eine Geschichte über den Tod, das Erzählen vom Tod und das Erzählen selbst. Das Spiel operiert mit einer zirkulären Begründungsstruktur, wie sie auch für Heiligenlegenden typisch ist und arbeitet mit metonymischen Erzähltechniken. 66 Die Binnenepisoden stehen dabei einerseits für das Narrativ des Fluches und die Familiengeschichte als Ganzes, andererseits aber auch für Ediths Geschichte selbst. Auch das Haus ist symbolisch stark aufgeladen: Es steht für den Fluch, für den Tod, für Geschichten, für memoria und imitatio. Der Versuch Dawns, das Haus zu verlassen, ist auch der Versuch, den Fluch hinter sich zu lassen und ihre Familie diesem tödlichen Narrativ zu entziehen – ein Versuch, der am Ende misslingt. Dawn stirbt und auch Edith besiegelt, als sie zum Haus zurückkehrt, ihr eigenes Schicksal. Indem sie in die 3. Handlungsebene ‚hineinrutscht‘, markiert sie ihren eigenen, bevorstehenden Tod – alle Binnenepisoden müssen mit dem Tod des Protagonisten enden. Der Fluch, die Finalität, hat als narratives Organisationsprinzip die Kontrolle übernommen.

Ein wichtiges Detail steht aber noch aus: Der Sohn Ediths ist am Ende des Spiels noch am Leben. Edith stirbt zwar, ihr Schicksal wird dem narrativen Prinzip untergeordnet – aber damit endet dieses Narrativ auch. Mit dem Tod Ediths werden die 3. und die 2. Handlungsebene abgeschlossen. Die 1. Handlungsebene bleibt ‚unbelastet‘ – dem Sohn steht es nun offen, ein anderes Narrativ zu gestalten, er muss nicht mehr zwangsläufig in die imitatio eintreten. Und: Er ist aus der Geschichte befreit, es ist nun möglich, anders über ihn zu erzählen. Hier zeigt sich noch einmal forciert die enge Verknüpfung von Erzählen und Tod, das tödliche Narrativ von What remains of Edith Finch: Der Sohn bleibt ein völlig unbeschriebenes Blatt, über ihn wird nicht erzählt und das ist der Grund, warum er überleben kann.

Der Tod als Erlösungsakt ist natürlich ein zentraler Gedanke der christlichen Theologie 67 – und lässt sich auch schon viel früher in zahlreichen mythologischen Erzählungen finden. Hier ist er deswegen so wichtig, weil der Tod Ediths die Geschichte sinnvoll beendet. Das Erzählprinzip der Finalität ist damit erfüllt, die Geschichte wurde abgeschlossen. Ebenso wie in Heiligenlegenden ist der Tod hier einerseits als Ende, aber noch viel mehr als Anfang zu betrachten. 68 Nicht umsonst stellt das Ende von Ediths Geschichte eine Geburtsszene dar. Ihr Tod und das neue Leben, das sie ihrem Sohn schenkt, werden hier unmittelbar miteinander gekoppelt. Dies ist die erste Erzählung, die auch ein neues Leben beginnen lässt, statt nur eines zu beenden. Was von Edith Finch bleibt, ist eine Geschichte – und im Abschluss dieser Geschichte die Möglichkeit, nun anders und neu zu erzählen.

Medienverzeichnis

Spiele

Giant Sparrow: What remains of Edith Finch (PlayStation 4). West Hollywood: Annapurna Interactive 2017.

Texte

Angenendt, Arnold: Corpus incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Reliquienverehrung. In: Saeculum. Jg. 42, H. 34 (1991), S. 320–348.

Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. 2., überarbeitete Auflage. München: C. H. Beck 1997.

Aristoteles: Poetik. Griechisch/deutsch. Bibliogr. erg. Ausg. 1994, [Nachdr.]. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Universal-Bibliothek Griechische Literatur, Bd. 7828. Stuttgart: Reclam 2012.

Binotto, Johannes: Tat/Ort. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur. diaphanes: Zürich, Berlin 2013.

Blanckenburg, Christian Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe. Hg. v. Eberhard Lämmert. Stuttgart: Metzler 1965.

Booth, Wayne C.: The rhetoric of fiction. 2. Aufl. Chicago: Univ. of Chicago Press 1983.

Engelns, Markus: Spielen und erzählen. Computerspiele und die Ebenen ihrer Realisierung. Diskursivitäten, Bd. 19. Heidelberg: Synchron 2014.

Feistner, Edith: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Zugl.: Würzburg, Univ., Habil.-Schr., 1993. Wissensliteratur im Mittelalter, Bd. 20. Wiesbaden: Reichert 1995.

Freud, Sigmund: Das Unheimliche. 1919. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 12. Hg. v. Anna Freud. Frankfurt a. M.: Fischer 1999, S. 227–278.

Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchges. u. korrigierte Aufl. Paderborn: Fink 2010.

Gerhard von Augsburg: Vita Sancti Uodalrici. Die älteste Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich. Hg. v. Walter Berschin und Angelika Häse. Editiones Heidelbergenses, Bd. 24. Heidelberg: Winter 1993.

Haase, Annegret; Schubert, Martin; Wolf, Jürgen (Hg.): Passional, Buch I und II. Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 91. Berlin: Akademie Verlag 2013.

Haferland, Harald: ‚Motivation von hinten‘. Durchschaubarkeit des Erzählens und Finalität in der Geschichte des Erzählens. In: DIEGESIS. Jg. 3, H. 2 (2014), S. 66–95.

Haferland, Harald: Kontingenz und Finalität. In: Cornelia Herberichs und Susanne Reichlin (Hg.): Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Historische Semantik, Bd. 13. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 337–363.

Haferland, Harald: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. Jg. 99 (2005), S. 323–364.

Hammer, Andreas: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im 'Passional'. Literatur – Theorie – Geschichte, Bd. 10. Berlin, Boston: De Gruyter 2015.

Hammer, Andreas: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden. In: Udo Friedrich, Andreas Hammer und Christiane Witthöft (Hg.): Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung. Literatur – Theorie – Geschichte, Bd. 3. Berlin: De Gruyter 2013, S. 173–197.

Herberichs, Cornelia; Reichlin, Susanne (Hg.): Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Historische Semantik, Bd. 13. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010.

Holland, R. F.: The Miraculous. In: American Philosophical Quarterly. Jg. 2, H. 1 (1965), S. 43–51.

Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 8., unveränderte Auflage. Tübingen: Niemeyer 2006.

Koch, Elke: Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen. In: Herberichs, Cornelia; Reichlin, Susanne (Hg.): Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Historische Semantik, Bd. 13. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 110–130.

Köpke, Friedrich Karl: Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts. Quedlinburg, Leipzig 1852.

Kunze, Konrad: Jacobus a Voragine. In: Christine Stöllinger-Löser, Burghart Wachinger, Gundolf Keil, Kurt Ruh, Werner Schröder und Franz J. Worstbrock (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Band 4. Berlin: De Gruyter 1983, S. 448–466.

Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. 2. Aufl. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 151. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.

Martínez, Matías: Motivierung. In: Braungart, Georg; Fricke, Harald und Grubmüller, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II: H – O. 3. Aufl. Berlin: De Gruyter 2007, S. 643–646.

Martínez, Matías: Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivierung in der Faustinianerzählung in der Kaiserchronik. In: Martínez, Matías (Hg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn: Schöningh 1996, S. 83–100.

Morty, Richard M.: The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method. With Two Retrospective Essays. Chicago: University of Chicago Press 1992.

Artikelbild

Titelbild: Screenshot aus What remains of Edith Finch (2017).

  1. Vgl. Engelns: Spielen und erzählen. 2014.[]
  2. Vgl. u. a. Morty: The Linguistic Turn. 1992.[]
  3. Giant Sparrow: What remains of Edith Finch. 2017.[]
  4. Auch auf Ebene des Gameplays bietet What remains of Edith Finch interessante Ansätze, die sicherlich noch viel Material für weitere Untersuchungen bieten würden – für den Vergleich mit Heiligenlegenden interessiert an dieser Stelle aber hauptsächlich die Ebene der Narration.[]
  5. Zahlreiche Videos und Artikel online gehen auf das Bedürfnis der Spieler ein, What remains of Edith Finch nachträglich zu deuten und zu interpretieren, was einerseits am relativ offenen Ende, andererseits auch an den teils sehr unklaren Todesursachen der Finches liegt. Das Spiel hat offenbar nur wenig Interesse an einer klar kausal motivierten Erzählweise, was scheinbar eine vorhandene Erwartungshaltung unterläuft.[]
  6. Luibl: Test: What remains of Edith Finch. 2017. <http://www.4players.de/4players.php/dispbericht_fazit/Allgemein/Test/Fazit_Wertung/Allgemein/36243/82479/What_Remains_of_Edith_Finch.html> [17.05.2018].[]
  7. Kontingenz verstehe ich hier unter dem Aspekt der Alternative insofern, als dass sie durch einen Horizont zeitgleicher Möglichkeiten bedingt ist. Vgl. dazu Herberichs, Reichlin: Text und Handeln. 2010.[]
  8. Haferland: Kontingenz und Finalität. 2010, S. 341.[]
  9. Ausgenommen, man spielt bewusst mit Lesererwartungen – dies spielt im vormodernen Erzählen allerdings weniger eine Rolle.[]
  10. „Handlungen [dürfen], wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten.“ Aristoteles: Poetik. 2012, S. 25.[]
  11. Ich verwende die Begriffe in Anlehnung an Genette: Die Erzählung. 2010.[]
  12. Haferland: Kontingenz und Finalität. 2010, S. 348.[]
  13. Vgl. Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden. 2013, S. 174 f.[]
  14. Vgl. Martínez: Motivierung. 2007, S. 643.[]
  15. Vgl. Aristoteles: Poetik. 2012, S. 25.[]
  16. „[Die] Größe, die erforderlich ist, mit Hilfe der nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgenden Ereignisse einen Umschlag vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück herbeizuführen, diese Größe hat die richtige Begrenzung.“ Aristoteles: Poetik. 2012, 27.[]
  17. Vgl. Blanckenburg: Versuch über den Roman. 1965, S. 10; S. 313 f.[]
  18. Haferland beschreibt eine Entwicklung des Erzählens von einer nicht intentional gesteuerten Finalität der Vormoderne hin zu einem modernen Erzählen, das den die „Kausalität überspannende[n] Finalnexus radikal problematisiert, zuerst in offenen Formen des Erzählens, dann etwa in der Darstellung eines Romanautors, dem kein Ende zu einer geplanten Erzählung mehr einfallen will und der deshalb nicht anfangen kann zu erzählen […], und wiederum in Erzählungen, die mehrere alternative Enden anbieten […] oder ein Ende verweigern sowie in vielen anderen Erzählexperimenten mehr“ (Vgl. Haferland: 'Motivation von hinten'. 2014, S. 87).[]
  19. Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. 1994, S. 66.[]
  20. Vgl. Feistner: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters. 1995, S. 23 ff.[]
  21. Vgl. Hammer: Erzählen vom Heiligen. 2015, 18 f.[]
  22. Vgl. dazu die Offenbarung des Johannes: Offb 20,1-6.[]
  23. Vgl. Angenendt: Heilige und Reliquien. 1997, S. 155 ff.[]
  24. Zahlreiche Mirakelsammlungen werden beispielsweise in der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine aufgeführt: „[H]ier überwiegt die erbauliche Erinnerung an die Anwesenheit des Heils sowohl in der (vergangenen) Berufung des Heiligen, als auch in seiner (stets gegenwärtigen) Vorbildlichkeit, als auch in seiner (auch zukünftig zu erhoffenden) Hilfe in zahllosen Mirakeln“ (Kunze: Jacobus a Voragine (VL). 1983, S. 455).[]
  25. Vgl. dazu z. B. die Ulrichslegende, die bereits kurz nach dem Tod Ulrichs von Augsburg explizit für das Heiligsprechungsverfahren geschrieben wurde: Gerhard von Augsburg: Vita Sancti Uodalrici. 1993.[]
  26. Hammer: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden. 2013, S. 173.[]
  27. Koch: Erzählen vom Tod. 2010, S. 112.[]
  28. Hammer: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden. 2013, S. 176.[]
  29. Vgl. Koch: Erzählen vom Tod. 2010, S. 114; Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. 1994, S. 151.[]
  30. Vgl. Luibl: Test: What remains of Edith Finch. 2017. <http://www.4players.de/4players.php/dispbericht_fazit/Allgemein/Test/Fazit_Wertung/Allgemein/36243/82479/What_Remains_of_Edith_Finch.html> [17.05.2018].[]
  31. Vgl. Sprödefeld: What remains of Edith Finch im Test. 2017. < http://www.pcgames.de/What-Remains-of-Edith-Finch-Spiel-55592/Tests/review-1226567/> [10.08.2018].[]
  32. Vgl. dazu Booths Konzept des unreliable narrator: Booth: The rhetoric of fiction. 1983.[]
  33. Ich benutze die Begriffe ‚Paratext‘ und ‚Spielwelt‘ hier als Provisorium. Mir geht es lediglich darum, die erzählte Welt von der ‚darüber‘ liegenden Instanz der Spielstruktur abzugrenzen. Inwiefern das im Einzelfall überhaupt eine sinnvolle Einteilung ist bzw. wie passend die Begriffe gewählt worden sind, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden – am behandelten Beispiel sind sie lediglich Hilfsmittel, um die narrative Struktur zu verdeutlichen.[]
  34. Im Gegensatz zur 1. Handlungsebene: die des Sohnes, der das Tagebuch Ediths liest.[]
  35. Vgl. dazu Hammer: Erzählen vom Heiligen. 2015, S. 271 ff.[]
  36. Jolles: Einfache Formen. 2006, S. 36.[]
  37. Vgl. Hammer: Erzählen vom Heiligen. 2015, S. 13 f.[]
  38. Das Passional ist mit über 100 000 Versen die größte Sammlung von Heiligenlegenden in der Volkssprache. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und entstand im Kontext des Deutschen Ordens mit Rückgriff auf die lateinische Vorlage der Legenda aurea.[]
  39. Vgl. dazu Hammer: Erzählen vom Heiligen. 2015, S. 158 ff.[]
  40. Schneidende Ruten, II 24019. Ich zitiere nach der Edition von Haase et al.: Passional. 2013.[]
  41. Von dem Kreuz (II 24249).[]
  42. Vgl. Hammer: Erzählen vom Heiligen. 2015, S. 360.[]
  43. Vgl. dazu Angenendt: Corpus incorruptum. 1991.[]
  44. Vor dem Heiligtum des heiligen Herren Stephan wurden sie von ihrem Leiden erlöst und ihr Leib wurde gesund (III 53, 28–31). Ich zitiere nach Köpke: Das Passional. 1852.[]
  45. Jolles: Einfache Formen. 2006, S. 51. Jolles ist als Mitglied der NSDAP und dem SD ein umstrittener Charakter der Literaturwissenschaft; seine Hauptschrift Einfache Formen (1930) ist für die Legendenforschung jedoch nach wie vor maßgeblich. Der Begriff der Antilegende stand, unter anderem wegen den von Jolles angeführten antisemitischen Konnotationen, zu Recht in der Kritik. Ich verwende ihn hier in Anlehnung an Andreas Hammer, der den Begriff erweitert und nicht gattungstypologisch, sondern komplementär zur Erzählform der Legende verwendet. Vgl. Hammer: Erzählen vom Heiligen. 2015, S. 333.[]
  46. Verfluchter Leichnam, sowohl schlecht als auch unrein (I 8028 f.).[]
  47. In den Wassern verursachten sie Stürmen und Wüten, viele Blitzstrahlen und Donnerschläge fingen sie an emporzuheben. Die Leute, die dort in der Nähe waren, wollten davon befreit werden (I 8225–8230).[]
  48. So geschah es an Pilatus, dem Bösen, dem Wertlosen (I 8252 f.).[]
  49. Noch bisweilen (I 8255).[]
  50. Dass er vollständig verflucht ist (I 8258).[]
  51. Im Zusammenhang mit der oben erwähnten Pilatuslegende wäre bspw. der Rock Christi zu nennen, der Pilatus zunächst vor dem gerechten Urteil des Kaisers Tiberius schützt, bevor Gott selbst eingreift. Tiberius wurde davor vom Tuch mit dem Abbild Christi geheilt, das Christus eben nicht nur repräsentiert, sondern selbst ein Teil von ihm und damit wunderkräftig ist.[]
  52. Vgl. Freud: Das Unheimliche. 1999.[]
  53. Binotto: Tat/Ort. 2013, S. 31.[]
  54. Vgl. dazu Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. 2005. S. 331 ff.[]
  55. So ist es sicherlich kein Zufall, dass Sam und Dawn beide das Haus verlassen wollten. Auch Walter hatte sich auf gewisse Art und Weise vom Haus distanziert – wenn auch statt in der Vertikale zumindest in der Horizontale: „She [Dawn] said after Barbara died, he got as far away as he could. If there’s a pattern in all these stories I think it’s that none of us has gotten very far.“[]
  56. Hammer: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden. 2013, S. 176.[]
  57. Für diesen Gedanken danke ich Thomas Müller.[]
  58. Da nahm ein alter Ritter eine bittere Lanze, damit stach er ihn durch seine Seite (II 206, 73–79).[]
  59. Das Blut lief am Speer herab auf seine Hand, davon wurde er gesund (III 215, 22–24).[]
  60. Da geschah es nach angemessener Art nach unseres lieben Herren Willen (III 215, 20 f.).[]
  61. Wie er von Gottes Beistand ein gutes Leben erlangte (III 217, 14 f.).[]
  62. Vgl. zu dieser Einteilung Holland: The Miraculous. 1965.[]
  63. Martínez: Fortuna und Providentia. 1996, S. 100.[]
  64. Vgl. Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. 2005, S. 335.[]
  65. Nun ging zur selben Zeit die Erzählung von Agatha, der Dienerin Gottes, umher (III 25, 2. 20–23).[]
  66. Es hat sich gezeigt, dass der Versuch, über das Wunderbare zu erzählen, in zwei sehr unterschiedlichen Medien mit ähnlichen narrativen Mitteln umgesetzt wurde. Mittelalterliche Heiligenlegenden sind ganz sicher nicht als Hypotext von What remains of Edith Finch zu denken, aber es wurde deutlich, dass bestimmte Erzählprinzipien in ganz verschiedenen Kontexten ähnlich funktionieren können. Die Herangehensweise, beide Medien als Text zu fassen und sich auf ihre narrative Struktur zu konzentrieren, hatte zwar zur Folge, dass einige wichtige Aspekte beider Medien ausgeblendet wurden, erlaubte aber andererseits, eben diese Struktur besonders deutlich herauszuarbeiten.[]
  67. Vgl. dazu den 1. Korintherbrief des Paulus: 1. Kor. 15, 1–34.[]
  68. In Heiligenlegenden stellt der Tod immer auch den Anfang des ewigen Lebens, die Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen, die communio sanctorum dar. []

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von Heßberg, Tamina: "Finales Erzählen in mittelalterlichen Heiligenlegenden und ‚What remains of Edith Finch‘". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 28.09.2018, https://paidia.de/finales-erzaehlen-in-mittelalterlichen-heiligenlegenden-und-what-remains-of-edith-finch/. [29.03.2024 - 09:39]

Autor*innen:

Tamina von Heßberg

Tamina von Heßberg (M. A.) ist Doktorandin der Germanistischen Mediävistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie studierte 2010 bis 2016 Germanistik und Philosophie in Dresden, München und Zürich und promoviert zur Ich-Rede in der deutschen Lied- und Spruchlyrik des 12. und 13. Jahrhunderts.