Klangzeichen: Sinn und Bedeutung in Computerspiel­musik - Musik als informationsvermittelnder Teil des Spielinterfaces

20. Februar 2019

Sinnlich: das klingende Spiel-Interface

1 Klang und Musik sind integrale Bestandteile der meisten Computerspiele. Die Rolle der Musik im Konzept der jeweiligen Spiele kann dabei vielfältig sein: Einige Spiele bieten lediglich eine vom visuellen Geschehen und der Spielmechanik weitgehend unabhängige Hintergrundmusik, während am anderen Ende des Spektrums Musik Gegenstand ganzer Spiele ist. Zwischen diesen beiden Polen – einerseits etwa repräsentiert durch zahlreiche Casual Games, andererseits durch Musik-Spiele wie Guitar Hero2 – findet sich eine stufenlose Varietät von Konzepten der Musikeinbindung. Dabei ist Musik mehr als nur eine rein ästhetische Komponente. Die meisten Computerspiele nutzen auf irgendeine Weise Musik (und Sound) dazu, das Eintauchen der Spielerin in die Spielwelt zu fördern. Musik kann Spiele über ihre visuelle Abbildung hinaus strukturieren und dadurch dem Spieler auf diese Weise die dramatische, zeitliche und topografische Orientierung erleichtern. Sie kann auch weitere spielrelevante Informationen bereitstellen: Auf die Spielwelt oder die Handlungen der Spielerin abgestimmt, vermag sie visuelle Kommunikation zwischen Spiel und Spielerin zu unterstützen oder sogar zu ersetzen.3

Musik kann also durchaus als Teil des Spielinterfaces, also der Interaktions-Schnittstelle von Spielenden mit dem Spiel, betrachtet werden. Diese funktionale Einbindung kann verschiedenartig ausgeprägt sein. So zeigt in Nintendos Super Mario Land4 eine 8-Bit-Version des berühmten „Can-Can“ aus Jacques Offenbachs Orphée aux enfers die vorrübergehende Unverwundbarkeit des Charakters an; zwei weitere Anwendungsgebiete führt Tim Summers in Understanding Video Game Music an. Einerseits könne Musik dem Spieler als Feedback dienen: So spiegele die Musik im Stealth-Computerspiel Tom Clancy’s Splinter Cell5 den Grad der Aufmerksamkeit der Gegner wider und zeige dem Spieler auf diese Weise, wie erfolgreich seine Bemühungen sind, unentdeckt zu bleiben.6 Andererseits könne Musik, so Summers mit Bezug auf Kristine Jørgensen, das Graphical User Interface (GUI) unterstützen und erweitern. Besonders in Strategiespielen sei es üblich, so genannte „Earcons“ mit Elementen des GUI zu verknüpfen. Earcons sind Tonsignale – kurze, unterscheidbare, künstliche Geräusche oder Musik mit einem genau bestimmbaren Bezug.7 Als Beispiel nennt Summers das Spiel Age of Empires III8, in dem kurze musikalische Elemente die Aufmerksamkeit der Spielerin auf Spielereignisse wie das Erreichen eines neuen Technologielevels oder einen gegnerischen Angriff lenken. Darüber hinaus würden, so Summers, einzelne funktionale Komponenten des GUI mit Earcons verknüpft. So erklinge ein „ascending cello glissando which is concluded by a single tubular bell pitch“ zeitgleich mit dem Aufleuchten einer Schaltfläche, die der Spielerin eine Auswahl an spielrelevanten Belohnungen für erworbene Erfahrungspunkte anzeigt.9

Legt man also die nachvollziehbare Annahme zugrunde, dass Computerspielmusik dem Spieler Informationen vermittelt, stellt sich eine entscheidende Frage: Wodurch wird diese Vermittlung möglich? Zu bestimmen, ob und wie Musik Informationen transportiert, ist traditionell (wenn auch nicht exklusiv) eine der zentralen Forschungsaufgaben der Musikästhetik. Sich mit diesem Problemfeld zu befassen, dürfte jedoch ebenso für die Erforschung, Komposition und Implementierung von Computerspielmusik durchaus interessant sein. Wenn Musik Teil des Kommunikationssystems zum Austausch von Informationen zwischen Spiel und Spieler ist, wie Summers und Jørgensen konstatieren,10 dann könnte die Beleuchtung der komplexen, grundliegenden Prinzipien der Informationsvermittlung durch Musik – und des Verstehens der Rezipierenden – neue Perspektiven auf das Zusammenspiel von auditiven und visuellen (oder sogar haptischen) Komponenten von Computerspielen eröffnen.

Musik und Information

Zunächst gilt es, einige Prämissen und Begriffe zu klären. Es sprechen gute Gründe für die Annahme, dass Musik oder musikalische Elemente, zumindest bis zu einem gewissen Grad, verstehbar sind. In den 2000er Jahren führten Stefan Koelsch und Tom Fritz eine Reihe von neurowissenschaftlichen Versuchen durch. Sie konnten nicht nur zeigen, dass Musik Emotionen und prämotorische zerebrale Aktivität hervorrufen und verstärken kann, sondern auch, dass Musik in denselben Hirnregionen verarbeitet wird, wie linguistische Syntax oder Semantik.11

Voraussetzung für eine spezifischere, verifizierbare Verstehbarkeit von Musik ist, dass etwas Verstehbares an ihr ist: Sie muss Bedeutung oder Sinn enthalten oder generieren.12 Es herrscht ein breiter Konsens darüber, dass Sprache, geschriebener Text, visuelle Kunstformen wie Gemälde oder audiovisuelle Kunstformen wie das Drama Bedeutung und Sinn enthalten oder generieren. Bedeutung und Sinn in (nicht textgebundener) Musik hingegen sind bereits seit der Antike Gegenstand eines kontroversen Diskurses:13 Die Pythagoreer betrachteten Harmonien ebenso wie Zahlen als Grundprinzipien allen Seins. Im Mittelalter glaubten einige Philosophen daran, dass Musik die Harmonie des Kosmos’ abbilden würden oder aber, dass Musik den Hörenden das unmittelbare Wort Gottes offenbaren würde. Die Neuzeit brachte die ausgeklügelte Affektenlehre hervor, deren Intention das gezielte Hervorrufen von Emotionen durch die Verwendung bestimmter kompositorischer Mittel war. Im 18. Jahrhundert gewann das Konzept des „Ausdrucks“ an Bedeutung und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich daraus die Idee eines „Ausdrucks des Unsagbaren“ in der Musik. Dieser „Inhaltsästhetik“ der Frühromantik stellte sich die „Formästhetik“ entgegen, mit ihren herausragenden Vertretern Eduard Hanslick und Johann Friedrich Herbart. Dieser Ansatz reduziert Musik auf das objektiv Gegebene – die berühmten „tönend bewegten Formen“14 – und weist jede Form extramusikalischer Erkenntnis zurück.

In der modernen Musikästhetik wird üblicherweise davon ausgegangen, dass Musik generell keine semantische Bedeutung beziehungsweise keinen semantischen Sinn enthalten kann. In ihrem Sammelband Musikalischer Sinn führen Alexander Becker und Matthias Vogel dies darauf zurück, dass Musik in keiner semantischen Relation zu einem beliebigen „X“ stehen kann:

  1. Musik repräsentiert X nicht, das heißt sie referiert oder denotiert nicht auf X, bildet X nicht ab und stellt X nicht dar. Dazu müsste sie über eine prädikative Struktur verfügen.
  2. Musik exemplifiziert X nicht, auch nicht metaphorisch, da keine Kriterien für gelungene Exemplifikation formuliert werden können.
  3. Es besteht keine (oder nur sehr eingeschränkte) semantische Relation zwischen Musik und X durch Konvention, da sie weitestgehend nicht auf Verabredungen beruht.
  4. Es besteht keine semantische Relation zwischen Musik und X durch Ähnlichkeit, was in der Problematik des schwer fassbaren Konzepts der Ähnlichkeit begründet liegt.
  5. Es besteht keine allein kausale semantische Relation zwischen Musik und X. Effekte, die durch Musik hervorgerufen werden, werden nicht semantisch vermittelt.
  6. Es besteht keine allein psychologische semantische Relation zwischen Musik und X (etwa durch Assoziation). Dazu fehlen der Musik assoziative Restriktionen: Die Reaktionen der Musikhörenden können beliebig vielfältig sein und sind vordergründig von deren Veranlagung abhängig.
  7. Eine semantische Relation zwischen Musik und X ergibt sich nicht unmittelbar aus der Intention des Komponisten, da sich diese höchstens aus ästhetischen Eigenschaften des Werks ableiten lässt, die zunächst erkannt werden müssen.
  8. X ist keine Übersetzung oder Paraphrase von Musik, sonst könnte X sie in wichtigen Hinsichten vertreten.15

Da darüber hinaus nach Becker und Vogel, ganz gemäß Gottlob Frege, semantischer Sinn Voraussetzung für Bedeutung und Sinn (logisch-)syntaktischer und damit auch inferentieller Art ist, verfügt Musik über solche ebenfalls nicht.16 Auch wenn einzelne Thesen Beckers und Vogel sicherlich streitbar sind, verdeutlichen sie ein Problem: Aus den von ihnen genannten (oder ähnlichen) Gründen sind die meisten Bedeutungstheorien nicht dazu in der Lage, ein überzeugendes Konzept musikalischer Bedeutung beziehungsweise musikalischen Sinns zu bieten.

Wie also können Bedeutung und Sinn in Musik konstituiert sein, wenn ein semantisches Verstehen ausgeschlossen ist? Ein gängiger Lösungsansatz liegt in der Hinwendung zur Semiotik, der philosophischen Zeichenlehre. Musikalische Elemente als Zeichen zu betrachten, die eine fundamentale Signifikanz noch unter der semantischen oder inferentiellen Ebene erzeugen, ist gut vereinbar mit der Annahme einer verstehbaren Musik und umgeht dabei die Probleme der Semantik: Auch wenn die Rezipierenden es nicht in Worte fassen können, kann Musik eine zuverlässig auftretende, vorhersagbare und verifizierbare Wirkung auf sie haben – an ihr kann „etwas zu verstehen“ sein.17

Semiotik im Praxistest

Im Hinblick auf Computerspielmusik ist es reizvoll, zum Erfassen musikalischer Bedeutung und musikalischen Sinns auf Semiotik zurückzugreifen. Die Musik vieler Spiele ist zu weiten Teilen frei von traditionellen Formen im Sinne musikalischer Formenlehre, denen an sich Bedeutung oder Sinn beigemessen werden könnte. Semiotik erlaubt die Annahme, dass in Computerspielen Bedeutung und Sinn durch das Ineinandergreifen verschiedenartiger Zeichen entsteht: Visuelle Darstellung, gesprochenes oder geschriebenes Wort sowie Klang formen ein insgesamt verstehbares Erlebnis. Die Rolle der Musik in diesem Zusammenspiel kann dabei variieren. Mit drei Vorschlägen verschiedener Autoren soll sich im Folgenden beschäftigt werden:

  1. Musik liefert implizit Kontext und Bedeutung zu Elementen von Computerspielen, etwa durch Strukturierung. Auf diese Weise trägt sie zur Perzeption und zu tieferem Eintauchen des Spielers in die Spielwelt bei.18
  2. Verschiedene Kunstformen setzen sich zu einem integralen Erlebnis zusammen und erzeugen in ihrem Zusammenspiel Bedeutung und Sinn. Durch die Interaktion der Spielerin mit dem Spiel entspinnt sich das Narrativ.19
  3. Musik ist Teil des Kommunikationssystems von Spielen. Sie übermittelt dem Spieler spielrelevante Information und hilft ihm, die Spielmechanik zu erlernen. In dieser Funktion können musikalische Elemente sogar als Sprechakte nach John L. Austin gewertet werden.20

Alle drei Konzepte stützen sich mehr oder weniger stark auf Semiotik. Sie setzen voraus, dass musikalische Ereignisse in Computerspielen von der Spielerin als Zeichen wahrgenommen und verarbeitet werden. Auf diese Weise kann die Spielerin das Ereignis dekodieren und dessen (wahrscheinlich) nicht-semantische Bedeutung verstehen. Diese Annahme soll hier exemplarisch auf die Probe gestellt werden. Um ihre Gültigkeit zu prüfen, sollen einige Beispiele in den Blick genommen werden, die zur Unterstützung der oben genannten Positionen von ihren Vertretern herangezogen wurden. Jedes dieser Beispiele soll entsprechend der bis heute einflussreichen Zeichentypologie von Charles Sanders Peirce klassifiziert werden.

Zu diesem Zweck soll Peirce’ Klassifikationssystem in aller möglichen Kürze rekapituliert werden. Nach Peirce manifestiert sich die gesamte Realität in Zeichen. Diese wiederum konstituieren sich in einer triadischen Relation zwischen drei Komponenten: dem Zeichen selbst, dem Objekt, auf welches das Zeichen referiert und schließlich dem ausgelösten Effekt auf den betrachtenden Geist, dem Interpretanten. Dabei ersetzt das Konzept des Interpretanten die traditionellen Konzepte von Bedeutung und Signifikanz. Die triadische Relation löst einen dynamischen Prozess der Interpretation eines Zeichens aus, die Semiose, deren Ergebnis ein konsensuales Verstehen ist.21 Als Beispiel kann ein Verkehrsschild dienen. Das physische Schild ist das Zeichen selbst, das Objekt ist die intendierte Anweisung (etwa „Vorfahrt achten“). Die dritte Komponente, der Interpretant, ist das Verstehen des erwarteten Verhaltens durch den Betrachter – die Fahrt zu verlangsamen und den Verkehrsteilnehmern mit Vorfahrt den Vorrang zu geben. Wie genau das Verstehen erreicht wird, hängt von der Beschaffenheit des Zeichens ab: Einige Zeichen (etwa ein Schrei) sind verstehbar aufgrund ihrer Beschaffenheit. Andere Zeichen, wie das Verkehrsschild, erfordern von der Betrachterin die Kenntnis eines konsensualen Regelsystems zur korrekten Interpretation – im Verkehrsschild-Beispiel die Straßenverkehrsordnung.

Peirce klassifiziert Zeichen nach drei Kategorien (Trichotomien): nach ihrer Beschaffenheit, ihrer Relation zum Objekt und nach ihrer Art und Weise, das Objekt zu denotieren. Jede Trichotomie umfasst wiederum drei verschiedene Zustände. In Hinblick auf die Beschaffenheit ist ein Zeichen ein Qualizeichen, wenn es sich ausschließlich um eine abstrakte Qualität handelt (etwa eine Farbe oder eine Form), also die bloße Möglichkeit eines Zeichens.22 Wird ein Qualizeichen realisiert, wird es zu einem Sinzeichen, einem real existierenden Gegenstand oder Vorgang. Sinzeichen sind etwa eine Warnleuchte oder ein einzelner Buchstabe auf einem bedruckten Blatt Papier.23 Ein Legizeichen ist ein genereller Typ, eine Gesetzmäßigkeit oder eine Konvention.24 So ist jedes Wort ein Legizeichen, aber auch ein charakteristischer Vogelgesang. In Hinsicht auf die Relation zwischen Zeichen und Objekt kann ein Zeichen ein Ikon, ein Index oder ein Symbol sein.25 Ikone beziehen sich allein durch Ähnlichkeit auf ihre Objekte, ein Index durch raum-zeitlichen oder kausalen Zusammenhang und Symbole durch Gesetz- oder Regelmäßigkeiten.26 Die dritte Kategorie bestimmt, ob ein Zeichen ein einzelner Term, ein Klassen- oder Eigenname ohne Wahrheitswert (ein Rhema), eine wahrheitsfähige Proposition aus zwei Ausdrücken (ein Dicent) oder eine komplexe Struktur aus Rhemas und Dicents (ein Argument) ist.27 Alle drei Trichotomien können zur Klassifizierung eines einzelnen Zeichens herangezogen werden und das Zeichen kann zugleich in mehrere Kategorien fallen. Dabei unterliegen die Kombinationen gemäß der Peirce’schen Systematik zeichenlogischen Einschränkungen: Ein Qualizeichen kann ausschließlich als Rhema und Ikon auftreten, ein Sinzeichen nicht als Symbol.28 Es verbleiben zehn mögliche Hauptzeichenklassen die im Handbuch der Semiotik in eine ebenso übersichtliche wie nützliche Darstellung gebracht sind:

I. 1. (Rhematisch ikonisches) Qualizeichen, z. B. „ein Gefühl von ‚rot‘“.
II. 2. (Rhematisch) ikonisches Sinzeichen, z. B. „ein individuelles Diagramm“.
3. Rhematisch indexikalisches Sinzeichen, z. B. „ein spontaner Schrei“.
4. Dicentisch (indexikalisches) Sinzeichen […], z. B. „eine Wetterfahne“.
III. 5. (Rhematisch) ikonisches Legizeichen, z. B. Eigennamen […].
6. Rhematisch indexikalisches Legizeichen, z. B. „ein Demonstrativpronomen“.
7. Dicentisch indexikalisches Legizeichen, z.B. […] Verkehrszeichen […].
8. Rhematisches Symbol (und Legizeichen), z. B. „ein Gattungsname“ (Substantiv).
9. Dicentisches Symbol (und Legizeichen), z. B. „eine gewöhnliche Proposition“.
10. Argument (und Symbol sowie Legizeichen), z. B. „ein Syllogismus“.29

Die Computerspielmusik-Elemente, welche Summers, Sweeney und Jørgensen zur Unterstützung ihrer Positionen anführen, lassen sich gemäß der Systematik Peirce’ klassifizieren.

Zur Untermauerung der These, nach der Musik mit dem Ziel tieferen Eintauchens in die Spielwelt zusätzlichen impliziten Kontext vermittelt, nennt Summers das Spiel Street Fighter II30. Dort werde jedem Charakter eine nationale Identität gegeben, verstärkt durch ein wiederkehrendes musikalisches Thema, unter Rückgriff auf Stereotypen. Da Stereotypen zu einem gewissen Grad auf Konsens beruhen, sind in diesen musikalischen Elementen Legizeichen zu erkennen, die Bedeutung und Sinn durch Konvention erzeugen. Das von Summers angeführte „Quartparallelen-Motiv“31, das einen chinesischen Kämpfer charakterisiert, könnte somit als rhematisches Symbol (und damit Legizeichen) interpretiert werden: Symbol, weil es auf Regularität beruht, Rhema, weil es nur ein einzelnes Element ohne konkreten Objektbezug und nicht wahrheitsfähig ist. Das Thema des spanischen Charakters Vega greift Elemente traditioneller andalusischer Flamenco-Musik auf. So ist etwa, wenn auch als Krebs ausgeführt, die harmonische Wendung einer charakteristischen andalusischen Kadenz  deutlich zu hören.

Abb. 1: Vereinfachte Transkription der Musik im „Vega“-Level von Street Fighter II, T. 16–19.32 Der Quartaufstieg in der untersten Stimme cis–d–e–fis ist die umgekehrte Ausführung eines für die „andalusische Kadenz“ charakteristischen Quartabstiegs mit abschließender kleiner Sekunde (im Flamenco-typischen E-Modus: a–g–f–e).33

Da dieses musikalische Ereignis auf mehr oder weniger komplexen musiktheoretischen Regularitäten beruht, ist es als Argument zu interpretieren. Dabei sind Kenntnisse um den musiktheoretischen Hintergrund nicht notwendig. Da die Semiose – das Dekodieren eines Zeichens – noch unter der semantischen und inferentiellen Ebene stattfindet, ist es vollkommen ausreichend, mit dem klanglichen Stereotyp vertraut zu sein.

Sweeney liefert eine umfassende Analyse der Funktionsweise der Computerspielmusik von Crysis34, um zu zeigen, dass Musik maßgeblich zur Erzeugung des Narrativs im interaktiven Spiel beiträgt. Die Interaktion der Spielerin mit der Spielwelt sowie das Fortschreiten der Handlung beeinflussen das Zusammenwirken musikalischer Elemente und Schichten, und formen so die Gestalt der Hintergrundmusik. Diese Technik beruht auf Veränderungen in Lautstärke, Rhythmus, Tempo, Orchestrierung und Harmonie.35 In diesem Fall können die Veränderungen, beziehungsweise die Wahrnehmung der Veränderungen als Zeichen verstanden werden. So kann die Wahrnehmung einer hörbaren Steigerung der Lautstärke als Qualizeichen (und damit rhematisch-ikonisch) betrachtet werden. Da die Lautstärkeänderung jedoch mit Elementen und Ereignissen innerhalb der Spielwelt fest verknüpft ist, etwa einen Anstieg der Handlungsintensität anzeigt, muss es eher als dicentisch (indexikalisches) Sinzeichen eingestuft werden.

Nach Jørgensen und Summers ist Computerspielmusik Teil des Kommunikationssystems zwischen Spiel und Spieler, das diesem etwa beim Erlernen der Spielmechanik hilft. Darüber hinaus ließen sich, so Summers, musikalische Elemente als Sprechakte nach Austins Sprechakttheorie verstehen, welche das Handeln der Spielerin beeinflussen sollen. Dies kann einerseits, wie bereits beschrieben, durch signifikante Änderungen in der Musik geschehen. Andererseits können hierzu „semiotische Referenzen“ dienen.36 Beispiel dafür ist etwa die Imitation eines Herzschlags durch die Hintergrundmusik, was – als Abbildung einer Beschaffenheit ohne festgelegten Bezug – als rhematisch ikonisches Sinzeichen gewertet werden kann. Die Einbindung von Earcons ist eine weitere Form ‚musikalischer‘ Kommunikation in Computerspielen. Da sie auf Spielereignisse oder Elemente des Interface verweisen, können sie als dicentisch indexikalische Sinzeichen klassifiziert werden. Als solche können sie gut mit anderen dicentisch indexikalischen Sinzeichen kombiniert werden, etwa aufleuchtenden Interface-Schaltflächen – wie es in Age of Empires III umgesetzt ist.

Klingende Zeichen?

Der exemplarische Versuch, musikalische Elemente von Computerspielen gemäß Peirce’ semiotischer Theorie zu klassifizieren, gibt Aufschluss über das Vermögen der Semiotik, die Generierung und Vermittlung von Sinn und Bedeutung in funktionaler Musik zu erklären. Die Zuordnung musikalischer Elemente zu Hauptzeichenklassen erscheint zwar möglich und wirkt überzeugend, ist im Einzelfall jedoch streitbar. Vor allem die Bestimmung nach der eng mit Wahrheitsfähigkeit verknüpften dritten Trichotomie der Art und Weise, ein Objekt zu denotieren, hängt maßgeblich vom Formverständnis in Musik ab: In welchem Moment ergeben Klangereignisse musikalische Zusammenhänge und (wann) sind solche Zusammenhänge wahrheitsfähig? Welcher Beschaffenheit bedarf ein musikalisches Element, um ein Dicent oder ein Argument zu sein? Diese Problematik zeigt die Schwierigkeit, musikalischen Phänomenen in der Semiotik gerecht zu werden. Die Zeichenhaftigkeit musikalischer Elemente ist nicht umsonst Forschungsgegenstand zahlreicher Autoren, und es stehen einige Positionen gegen- wie nebeneinander: Sie reichen von der Annahme einer vollständigen Asemiotik der Musik, über bloße Asemantik bis hin zu musiksemiotischen Modellen eines akustischen Zeichensystems mit jeweils verschiedenen bedeutungstheoretischen Ausgangspunkten.37 Nicht selten handelt es sich dabei um Erweiterungen und Modifikationen der Peirce’schen Semiotik.

Semiotik ist sicherlich nicht die Panazee der Musikästhetik und die Zeichenlehre heranzuziehen führt mitunter selbst zu tiefergehenden Problemen. Zudem eröffnet sie keinen Einblick in Sinn und Bedeutung von Musik nach konventionellem Verständnis – also semantisch oder inferentiell verstehbarer Art. Dennoch bleibt eine Analyse aus semiotischer Perspektive im Falle der funktionalen Computerspielmusik attraktiv: Musikalische Elemente in ihrem Kontext als Zeichen zu deuten, ermöglicht es, sie wie die mit ihnen multisensuell verwobenen Zeichen zu analysieren und zu interpretieren.  In Computerspielen wie Street Fighter II, Crysis oder Age of Empires III kommen offenbar verstehbare musikalische Elemente als Teil der Kommunikations-Schnittstelle zwischen Spiel und Spieler zum Einsatz: Sie strukturieren das Narrativ, liefern implizite Information oder gehören zu Interface und Feedback-System des Spiels. Trotz der Schwierigkeiten musikalischer Semiotik können semiotische Ansätze die intendierten wie erzielten Effekte der Computerspielmusik auf die Spielerinnen weitaus besser erklären, als ein semantisches oder inferentielles Verständnis von Sinn und Bedeutung in Musik.

Medienverzeichnis

Spiele

Capcom: Street Fighter II (Arcade, SNES, Amiga, PC u.a.). Japan: Capcom 1991.

Crytek: Crysis (PC, PlayStation 3, XBOX 360). USA: Electronic Arts 2007.

Ensemble Studios: Age of Empires III (PC). USA: Microsoft 2005.

Harmonix Music Systems: Guitar Hero (PlayStation 2). USA: RedOctane 2005.

Nintendo Research & Development 1: Super Mario Land (Game Boy). Japan: Nintendo 1989.

Ubisoft Montreal: Tom Clancys Splinter Cell (PC, Xbox, PlayStation 2, GameCube). Frankreich: Ubisoft 2002.

Texte

Becker, Alexander; Vogel, Matthias (Hg.): Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007.

Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, H. 100 (1892), S. 25–50.

Gligo, Nikša: Klang - Zeichen - Wert. Die musikalische Semiotik und ästhetische Wertung. In: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music, Jg. 31, H. 2 (2000), S. 185–202.

Glück, Marliese: Flamenco, III. In: Laurenz Lütteken (Hg.): MGG Online. Kassel u.a.: Bärenreiter 2016. https://www.mgg-online.com/mgg/stable/14536 [09.01.2019]

Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Rudolph Weigel 1854.

Jørgensen, Kristine: ‚What are Those Grunts and Growls Over There?‘ Computer Game Audio and Player Action. Phil. Diss. Kopenhagen 2007. <http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.712.8909&rep=rep1&type=pdf> [02.10.2018]

Keller, Peter; Stevens, Catherine: Meaning From Environmental Sounds: Types of Signal-Referent Relations and Their Effect on Recognizing Auditory Icons. In: Journal of Experimental Psychologic: Applied, Jg. 10, H. 1 (2004), S. 3–12. <https://www.researchgate.net/publication/8646921_Meaning_From_Environmental_Sounds_Types_of_Signal-Referent_Relations_and_Their_Effect_on_Recognizing_Auditory_Icons> [01.10.2018]

Kirkpatrick, Graeme: Aesthetic theory and the video game. Manchester: Manchester University Press 2011.

Koelsch, Stefan; Fritz, Tom: Musik verstehen. Eine neurowissenschaftliche Perspektive. In: Alexander Becker; Matthias Vogel (Hg.): Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 2007, S. 237–264.

Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. 2. Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000.

Nowak, Adolf: Musikästhetik, II. In: Laurenz Lütteken (Hg.): MGG Online. Kassel u.a.: Bärenreiter 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/2827> [01.10.2018]

Peirce, Charles S.: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, hg. von Charles Hartshorne, Paul Weiss und Arthur W. Burks. Cambridge, MA: Harvard University Press 1931-1958.

Summers, Tim: Understanding Video Game Music, Cambridge: Cambridge University Press 2016.

Sweeney, Mark R.: The Aesthetics of Videogame Music. Phil. Diss. Oxford 2014. <https://ora.ox.ac.uk/objects/uuid:70a29850-0c0d-4abd-a501-e75224fa856a> [01.10.2018].

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  1. Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 14. April 2018 auf der Tagung „Ludo 2018“ an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig in englischer Sprache gehalten hat: „Sense and Meaning in Video Game Music. Music as Information Carrying Part of the Game Interface”.[]
  2. Harmonix Music Systems: Guitar Hero. 2005.[]
  3. Vgl. Summers: Understanding Video Game Music. 2016, S. 140.[]
  4. Nintendo Research & Development 1: Super Mario Land. 1989.[]
  5. Ubisoft Montreal: Tom Clancys Splinter Cell. 2002.[]
  6. Vgl. Summers: Understanding Video Game Music. 2016, S. 122 f.[]
  7. Das Verständnis des Begriffs „Earcon“ übernimmt Summers von Kristine Jørgensen (‚What are Those Grunts and Growls Over There?‘. 2007, S. 65). Jørgensen wiederum nutzt die Terminologie nach Peter Keller und Catherine Stevens (Meaning From Environmental Sounds. 2004, S. 4). Demnach lassen sich informationshaltige Tonsignale in drei zugrundeliegende Kategorien einteilen: Sprache (mit semantischem Gehalt), Auditory Icons mit alltagsweltlichem Klang sowie künstliche Earcons mit einem festgelegten, zu erlernenden Bezug.[]
  8. Ensemble Studios: Age of Empires III. 2005.[]
  9. Summers: Understanding Video Game Music. 2016, S. 119 f.[]
  10. Vgl. ebd., S. 117 und vgl. Jørgensen: What are Those Grunts and Growls Over There?‘. 2007, S. 176–178.[]
  11. Vgl. Koelsch; Fritz: Musik verstehen. 2007, S. 258 f. []
  12. Die Begriffe werden hier nach dem Verständnis Gottlob Freges angewandt. Nach Frege ist eine sorgfältige Unterscheidung zwischen „Sinn“ und „Bedeutung“ zu treffen. „Bedeutung“ steht für die Referenz eines Zeichens auf ein Objekt und trägt einen Wahrheitswert. „Sinn“ hängt darüber hinaus noch von der „Art des Gegebenseins“ ab. Während, so Frege, die Bedeutung der Begriffe „Abendstern“ und „Morgenstern“ identisch sein könne („der Planet Venus“), sei der Sinn jeweils ein anderer: „Abendstern“ ist das hellste Gestirn nach Sonnenuntergang, „Morgenstern“ das hellste Gestirn vor Sonnenaufgang. (Frege: Über Sinn und Bedeutung. 1892, S. 25 f.) []
  13. Ein Überblick über die im Folgenden angerissenen (und weitere) Positionen wird geboten in Nowak: Musikästhetik, II. 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/28279>[]
  14. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. 1854, S. 32.[]
  15. Becker; Vogel (Hg.): Musikalischer Sinn. 2007, S. 17–19.[]
  16. Vgl. ebd., S. 16.[]
  17. Ein (scheinbarer) Vorteil der hier vollzogenen Hinwendung zu einer pragmatischen Bedeutungstheorie liegt an dieser Stelle darin, dass die Wahrheitsfähigkeit des „etwas“ nicht weiter zu hinterfragen ist, womit sich (vermeintlich) ein weiterer komplexer Diskurs umgehen lässt. An späterer Stelle wird sich zeigen, dass diese Rechnung nicht aufgeht.[]
  18. Vgl. Summers: Understanding Video Game Music. 2016, S. 58–60.[]
  19. Sweeney: The Aesthetics of Videogame Music. 2014, S. 266f. Sweeney orientiert sich an der Anwendung der Ästhetischen Theorie auf das Medium Computerspiel an Graeme Kirkpatrick (Aesthetic theory and the video game. 2011).[]
  20. Jørgensen: What are Those Grunts and Growls Over There?‘. 2007, S. 12f. Summers greift Jørgensens Ergebnisse auf und bringt zusätzlich John L. Austins Speech Act Theory ein (vgl. Summers: Understanding Video Game Music. 2016, 116f. und 123 -127).[]
  21. Vgl. Nöth: Handbuch der Semiotik. 2000, S. 61f.[]
  22. Vgl. Peirce: Collected Papers. 1931-1958, 2.244. Die Angaben aus den Collected Papers bezeichnen jeweils Band und Paragraphen.[]
  23. Vgl. ebd., 2.245.[]
  24. Vgl. ebd., 2.246.[]
  25. Vgl. ebd., 2.275.[]
  26. Vgl. ebd., 2.276, 2.283 und 2.292 f.[]
  27. Vgl. ebd., 8.337.[]
  28. Vgl. Nöth: Handbuch der Semiotik. 2000, S. 67.[]
  29. Ebd. Unterklassen, die redundant oder für eine Zeichenklasse vorauszusetzen sind, stehen in Klammern. In Anführungszeichen werden Beispiele nach Peirce genannt.[]
  30. Capcom: Street Fighter II. 1991.[]
  31. Summers: Understanding Video Game Music. 2016, S. 62.[]
  32. Capcom: Street Fighter II. 1991, PC-Version, emuliert mit DOSBox.[]
  33. Vgl. Glück: Flamenco, III. 2016. <https://www.mgg-online.com/mgg/stable/14536>[]
  34. Crytek: Crysis. 2007.[]
  35. Vgl. Sweeney: The Aesthetics of Videogame Music. 2014, S. 62.[]
  36. Summers: Understanding Video Game Music. 2016, S. 123–126.[]
  37. Von Asemiotik der Musik spricht Émile Benveniste, von Asemantik Nicolas Ruwet. Wichtige musiksemiotische Positionen wurden von Jean-Jacques Nattiez und Eero Tarasti vertreten. (Vgl. Nöth: Handbuch der Semiotik. 2000, S. 433 f.) Auch Kofi Agawu und Umberto Eco haben sich den Problemen musikalischer Semiotik gewidmet (vgl. Gligo, Klang - Zeichen - Wert. 2000, S. 194–198).[]

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Schwinning, Reinke: "Klangzeichen: Sinn und Bedeutung in Computerspiel­musik - Musik als informationsvermittelnder Teil des Spielinterfaces". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 20.02.2019, https://paidia.de/klangzeichen-sinn-und-bedeutung/. [28.03.2024 - 10:13]

Autor*innen:

Reinke Schwinning

Reinke Schwinning (Dr. phil.) studierte Schulmusik und Philosophie. Seit 2014 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische Musikwissenschaft der Universität Siegen, 2017 promovierte er über musikbezogene Schriften des Philosophen Ernst Bloch in dessen frühem Hauptwerk Geist der Utopie. Seine Forschungsschwerpunkte sind Musikphilosophie, kulturelle Netzwerke und Musik des 20. und 21. Jahrhunderts sowie Videospielmusik.