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Editorial: Deutschsprachige Game Studies 2011-2021: Eine Bilanz

15. Oktober 2021

„And then one day you find ten years have got behind you” - Pink Floyd

Zehn Jahre sind eine lange und kurze Zeit zugleich. Doch ob lang oder kurz: Zehn Jahre sind ein guter Zeitpunkt einmal Revue passieren zu lassen, einmal geistige Inventur zu machen. Entsprechend haben wir die Scientific Community aufgefordert, das zehnjährige Bestehen von PAIDIA zum Anlass zu nehmen, einen Blick zurück zu werfen und dabei durchaus auch über PAIDIA hinauszuschauen. Wir selbst wollen an dieser Stelle aber auch einen Blick auf unsere eigene Geschichte werfen.

PAIDIA ging am 15. Oktober 2011 online. Wie Marcel Schellong im ersten Editorial schreibt, war die „Motivation für den Aufbau von PAIDIA […]  ein in den vergangenen Jahren deutlich erkennbarer Anstieg von Publikationen“, die sich von „den engen Grenzen einer monodisziplinär ausgerichteten Forschung“ loslösten, sowie „die gleichzeitig intensive, begeisterte und wissenschaftlich geprägte Auseinandersetzung mit Computerspielen.“1 Gerade zweiteres war auch ganz speziell für die an PAIDIA Beteiligten ein Ausgangspunkt und so war vor allem in der Anfangszeit noch der Brückenschlag zwischen Forschung und enthusiastischer Spieler*innenschaft kennzeichnend – ein Anspruch, der zwar nie ganz fallen gelassen wurde, aber nach und nach einer klar wissenschaftlichen Ausrichtung wich.

„Computerspielphilologie“

PAIDIA entstand nicht aus dem Nichts, sondern aus einem Seminar, aus dem zunächst das (nach wie vor aktive) Kolloquium Game Studies & Kulturwissenschaften und wenig später dann die Zeitschrift hervorging: Im Sommersemester 2009 veranstalteten Marcel Schellong und Gebhard Grelczak an der LMU für Studierende der Germanistik ein Proseminar mit dem Namen „Computerspielphilologie“, das im Vorlesungsverzeichnis wie folgt angekündigt wurde:

An der Schnittstelle zwischen Literatur- und Medienwissenschaft rücken vor allem solche Untersuchungsgegenstände in den Fokus, die einen – durch Intermedialitätstheorien gestützten – Transfer von literaturwissenschaftlichen Methoden auf das andere/neue Medium zulassen (z.B. Filmphilologie). Computerspiele stellen diese interdisziplinäre Forschung vor ein erhebliches Problem: Sie sind nicht nur ein weiteres Medium für Erzählhandlungen, sondern zu allererst „Spielräume“, Spiele also, die zugleich Raum für Narrationen bieten. Einige Computerspiele, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, verfügen über komplexe Erzählstrukturen und können – sofern man bereit ist, einen weiten Textbegriff zugrunde zu legen – als „Medientexte“ (Neitzel) analysiert werden. Dabei muss stets beachtet werden, dass diese Medientexte nie unabhängig von ihrer Beschaffenheit als interaktives Spiel beobachtet werden können.

Im Proseminar soll neueren Forschungsansätzen nachgegangen werden, die das Verhältnis von Erzählung und Spiel sowie die Möglichkeiten narratologischer Zugänge zu Computerspielen untersuchen. Neben diesen theoretischen Überlegungen (für die eine gewisse Begeisterung an Erzähl-/Spiel- und Intermedialitätstheorie unerlässlich ist) werden auch konkrete Beispiele analysiert.2

Das Interesse unter den Studierenden war groß, gab es doch bei einer maximalen Teilnehmer*innen-Zahl von 35 gut über 60 Anmeldungen. Wenig später erreichte am 25. März 2009 eine E-Mail 35, paritätisch ausgeloste Studierende eine E-Mail mit den Worten „das Losglück war mit Ihnen“ und der Aufforderung für die erste Sitzung Martinez und Scheffels „Einführung in die Erzähltheorie“, Nicole Mahnes „Transmediale Erzähltheorie“ und Julian Kücklichs Aufsatz „Invaded Spaces“ vorzubereiten sowie sich grundlegend in die Geschichte der Computerspiele einzulesen.3 Zwar hangelte sich das Seminar zunächst an aus der Literaturwissenschaft bekannten Themen wie der Narratologie entlang, öffnete sich allerdings nach und nach immer mehr zu einer grundlegenden kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Computerspielen. Da die beiden Dozenten ebenfalls bereits in ihrer ersten E-Mail ankündigten, dass Studierende das Seminar aktiv mitgestalten sollten, wurden große Teile der Lehrveranstaltung gemeinsam erarbeitet. Es gab freiwillige zusätzliche Treffen inklusive Spielsichtungen, ein sehr lebendiges Forum und zumindest ein Teil der Studierenden war mit voller Leidenschaft dabei und das sollte nicht folgenlos bleiben.

Kolloquium Game Studies & Kulturwissenschaft München

Am 27. Oktober, also ein gutes Jahr nach dem Ende der Lehrveranstaltung, erreichte interessierte Studierende folgende E-Mail von Grelczak und Schellong:

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,

seit dem Proseminar „Computerspielphilologie" im Sommer 2009 lässt uns das Thema Gamestudies nicht mehr los. Das hat vor allem damit zu tun, dass wir auch nach dem Seminar mit einigen von Ihnen noch in engem Austausch über das Thema standen und dass uns dabei aufgefallen ist, dass die deutschsprachige Forschungs- und Veröffentlichungslandschaft doch einigermaßen überschaubar ist. Mit dem Kolloquium „Gamestudies und Kulturwissenschaft" möchten wir nun einen Raum schaffen, in dem wir über den 'state of the art' und mögliche Richtungen einer zukünftigen kulturwissenschaftlichen Computerspielforschung sprechen können.

Grundlage unserer Treffen, die wir im übrigen terminlich flexibel gestalten können (und wollen), sind jüngere Publikationen zum Thema und auch eigene Arbeiten. Im Unterschied zum Proseminar möchten wir den Fokus nicht allzu eng auf rein philologische Zugriffsweisen stellen, sondern gezielt allen kulturwissenschaftlichen Überlegungen und Ansätzen Raum geben.4

Es zeigte sich also, dass sich die Beteiligten wünschten, dass es nicht bei der einmaligen Beschäftigung mit Computerspielen blieb und so war beim ersten Vorbereitungstreffen am 28.11.2010 das Kolloquium Game Studies & Kulturwissenschaft München geboren, das bis heute noch besteht. Neben Grelczak und Schellong zählten bei der Gründung zu den Teilnehmer*innen Andreas Schöffmann, Stefan Lenhard, Philipp Augat, Sebastian Lang, Michele Moser, Robert Baumgartner, Claudia Meyer, Felix Mackenberg, Franziska Ascher und Tobias Unterhuber. Man traf sich ab da circa einmal pro Monat für ein- bis zweitägige Sitzungen, um sich Computerspielen aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern. Dass es dabei aber nicht bleiben sollte, hatten Grelczak und Schellong, bereits in ihrer Einladungsmail geschrieben, auch wenn für die Studierenden zu Beginn des Proseminars wohl noch nicht ganz klar war, wohin die Reise gehen sollte:

Um nicht irgendwann in der Falle zielloser Produktivität gefangen zu werden, möchten wir mit Ihnen gemeinsam auch über mögliche eigene Veröffentlichungsformate sprechen und eventuell eine konkrete Publikation ins Auge fassen.5

Eine eigene Publikation

Die Idee einer eigenen Publikation ließ aber dann auch im Kolloquium nicht lange auf sich warten. So ist ein Foreneintrag von Marcel Schellong archiviert, der die Aufgabe der Teilnehmer*innen für die nächste Sitzung dokumentiert: zu sichten, welche periodischen Veröffentlichungen es in Bezug auf Computerspiele im deutschsprachigen Raum gebe, sowohl für Endverbraucher*innen als auch für Wissenschaftler*innen, sowohl gedruckt als auch online; welche Art Publikation dabei noch fehle und wie diese zu finanzieren und zu gestalten sei.6 Die Pläne für eine eigene Zeitschrift wurden schnell konkreter und so verpflichteten sich die Mitglieder bereits im März dazu erste Artikelentwürfe zu schreiben,7 die bis Juni fertiggestellt wurden.8

Abb. 1: Skizze des Redaktionsablaufs. 23.03.2011

Abb. 1: Skizze des Redaktionsablaufs. 23.03.2011

Aufgrund finanzieller Zwänge und eines gewissen Aktualitätsanspruches im Angesicht eines sich rasch wandelnden und fortentwickelnden Mediums einigte man sich vergleichsweise rasch auf ein „kontinuierlich erscheinende[s] E-Journal“ mit mindestens monatlichen Veröffentlichungen.9

Die Namensfindung indes dauerte etwas länger. Nicht alle Vorschläge sind überliefert, im Gedächtnis geblieben ist jedoch zumindest der nicht ganz ernstgemeinte Vorschlag „Narratolude“. Schließlich fiel aber die Wahl auf PAIDIA, „denn das meint ja genau das, was wir mit Spielen machen: wir erforschen sie spielerisch.“10

Abb. 2: PAIDIA-Visitenkarte. 2011.

Abb. 2: PAIDIA-Visitenkarte. 2011.

Im Sommer 2011 setzte Gebhard Grelczak den Server und das CMS auf, die Domain wurde gekauft und die ersten Beiträge angelegt. Ein Teil der Gruppe fuhr diesen Sommer auch gemeinsam auf die Gamescom, um dort Werbung für das neue Publikationsorgan zu machen. (Siehe Abb. 2) Schließlich ging PAIDIA, damals noch mit dem Beititel „advanced game studies“ am 15. Oktober 2011 online.

Bilanz ziehen

Was hat sich seit 2011 verändert? Inwiefern ist die Institutionalisierung der Game Studies vorangeschritten? Inwiefern haben sich die Zugänge und Methoden verändert? Inwiefern haben sich die Forschungsinteressen verändert? Gerade in einer so jungen Disziplin wie den Game Studies ist die Beobachtung und Evaluation der eigenen Fachgeschichte ein drängendes Anliegen, um zu verstehen, wie sich eine Disziplin entwickelt, welche Wege sie einschlägt und welche sie im Lauf der Zeit verlässt. Eine solche Selbstreflexion kann zu einem besseren Verständnis des Zustands und der Verortung sowohl der eigenen Forschung als auch der Forschungslandschaft führen.

Der Blick zurück kann aber auch gleichzeitig ein Blick nach vorn sein. Somit steht nicht nur zu Debatte, wie sich die deutschsprachigen Game Studies in den letzten Jahren verändert haben, sondern auch, wie sie sich potenziell weiter verändern könnten. Welche Entwicklungen sind abzusehen? Welche sind überfällig? Auch solche Fragen müssen gestellt werden. Und Sie wurden von unseren Beitragenden gestellt. In elf Essays setzen sich Vertreter*innen der deutschsprachigen Computerspielforschung mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Game Studies auseinander – mal aus persönlicher, fachpolitischer, methodologischer und mal aus epistemologischer Stoßrichtung.

Die Beiträge

Sonia Fizek entwirft eine Zukunftsvision für die Institutionalisierung der Game Studies als „Spielwissenschaften“ unter geisteswissenschaftlicher Führung – ruhend auf den drei Säulen Play Cultures (Ethnoludology), Play Theory (Game Theory and Analysis) und Play Systems (Game Design Theory/Systemic Ludology).

Markus Rautzenberg, Rolf F. Nohr, Claus Pias und Gabriele Gramelsberger stellen in ihrem Beitrag die häufige Assoziation der Handlungsform Spiel/Spielen mit dem Computerspiel sowie den Begriff des Spielens selbst in Frage und erweitern die Perspektive des CfPs auf „spielförmige Wissensprozesse“ hin.

Kai Matuskiewicz wirft anhand der Zeitschriften des Forschungsfeldes einen Blick auf die Entwicklungen der Game Studies. Ausgehend von den Jahren 2001, 2011 und 2021 lotet er somit die veränderte Forschungslandschaft aus, um anschließend zu überlegen, wie das Forschungsfeld im Jahre 2031 aussehen könnte.

Tobias Unterhuber beschäftigt sich ebenfalls mit den Zeitschriften des Faches. Anhand der statischen Verteilung in Bezug auf das  Geschlecht der Autor*innen bei PAIDIA zeigt er auf, wie es exemplarisch um die genderbedingte Marginalisierung in den Game Studies steht und welche Maßnahmen dagegen ergriffen werden könnten.

Jochen Koubek berichtet von den Problemen, einen Masterstudiengang Computerspielwissenschaften in der deutschen Unilandschaft zu etablieren und von den vielen Vorurteilen, die der Erforschung von Spielen immer noch, auch innerhalb der Universitäten entgegengebracht werden.

Magdalena Leichter blickt auf einen „späten“ Einstieg in die Game Studies zurück. Dabei führt sie im Speziellen aus, inwiefern die Game Studies zugleich ein junges und ein altes Fach sein können, das einerseits eben noch immer nicht fest in der Universität verankert ist und gleichzeitig bereits auf Jahrzehnte im Feld etablierter Forschung zurückblicken kann.

Anh-Thu Nguyen berichtet davon, wie sie selbst zur Computerspielforschung kam, wie dies ohne einen Studiengang möglich war und inwiefern die Probleme der deutschen Hochschullandschaft, gerade die Stellenbefristung und Unterfinanzierung, die Beschäftigung mit Spielen bereits im Studium erschweren.

Martin Hennig und Hans Krah lassen ihre Erfahrungen mit der Tagungsreihe „Spielzeichen” Revue passieren, um so auszuloten, welche Forschungstrends und -desiderate sich aus den Thematiken der Tagungen ableiten lassen und inwiefern sich das Forschungsfeld inzwischen verändert hat. Dabei sprechen sie sich für eine Historisierung der Spieleforschung aus.

Andreas Rauscher befasst sich damit, wie die Kooperationen zwischen Filmwissenschaft und Game Studies, an denen er selbst maßgeblich mitgewirkt hat, bereits extrem fruchtbar für beide Seiten waren, welche Möglichkeiten dabei hier aber immer noch nicht ausgeschöpft wurden.

Pascal Wagner nimmt mit Relationen zwischen Sprachwissenschaft und den Game Studies ebenso eine Schnittstelle zweier Felder in den Blick und stellt die Frage, inwiefern von einer Ludolinguistik gesprochen werden kann, was diese ausmachen und welchen Mehrwert sie bereit halten würde.

Rudolf Inderst und Lambert Heller stellen die grundsätzliche Frage, ob Text überhaupt die richtige Form ist, um sich mit digitalen Spielen wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Sie sprechen sich dabei für die Etablierung und Verwendung der Form des Videoessays ein, die bereits in ihrer audiovisuellen Materialität dem Gegenstand angemessener sei.

Bevor wir Ihnen eine anregenden Lektüre mit diesen spannenden Beiträgen wünschen, möchten wir noch einmal ganz herzlich Danke sagen.

 

Danke an alle unsere Leser*innen

Danke an alle unsere Autor*innen

Danke an alle unsere auch ehemaligen Mitarbeiter*innen

 

Ohne euch, ohne Sie wäre PAIDIA nicht das, was es heute ist.

 

Tobias Unterhuber

i. A. der Redaktion und der Herausgeber*innen

  1. Schellong: Ediotiral 2011. In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 2011. < https://www.paidia.de/editorial-2011/> [13.10.2021].[]
  2. Ankündigung Vorlesungsverzeichnis LMU Sommersemester 2009.[]
  3. E-Mail 25.03.2009.[]
  4. E-Mail 27.10.2010.[]
  5. Vgl. ebd.[]
  6. Emailbenachrichtigung 22.01.2011.[]
  7. E-Mail 31.03.2011.[]
  8. E-Mail 18.05.2011.[]
  9. Emailbenachrichtigung 09.06.2011.[]
  10. Emailbenachrichtigung 20.06.2011.[]

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So zitieren Sie diesen Artikel:

Unterhuber, Tobias: "Editorial: Deutschsprachige Game Studies 2011-2021: Eine Bilanz". In: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung. 15.10.2021, https://paidia.de/editorial-deutschsprachige-game-studies-2011-2021-eine-bilanz/. [19.03.2024 - 04:25]

Autor*innen:

Tobias Unterhuber

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema "Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht". Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.